Integration in Deutschland 3/2006, 22.Jg., 30. September 2006

BILDUNG

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Von Europa lernen

Zur Eingliederung von Migrantenkindern

Spätestens als Deutschland bei einer im Mai 2006 vorgestellten Studie zur Situation von Schülern mit Migrationshintergrund in 17 Ländern den letzten Platz belegte, klingelten hierzulande die Alarmglocken. Bei der Studie "Wo haben Schüler mit Migrationshintergrund die größten Erfolgschancen. Eine vergleichende Analyse von Leistungen und Engagement in PISA 2003" handelt es sich um eine Sonderauswertung der durch die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für den internationalen Leistungsvergleich PISA erhobenen Daten (Kurz-Zusammenfassung unter: www.oecd.org/dataoecd/2/57/36665235.pdf). Es lohnt sich, den Blick auf die Bildungspolitik ausgewählter europäischer Nachbarn zu richten.

"Brücken-Klassen" in Belgien

Belgien scheint in Sachen Diversität Modellcharakter zu haben. Die gut 10 Millionen Einwohner verteilen sich auf drei Sprachgemeinschaften - Französisch, Deutsch und Flämisch -, die das Thema der schulischen Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund jeweils eigenständig und unabhängig voneinander gestalten. Grundsätzlich hat in Belgien jedes Kind ein verfassungsmäßig garantiertes Recht auf - bis zum Ende der Schulpflicht - kostenlose Schulbildung. Die vorhandenen finanziellen Fördermittel im Schul- bzw. Ausbildungsbereich, wie Stipendien oder Beihilfen, stehen auch den Schülern nicht-belgischer Nationalität zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es speziell auf Migrantenkinder zugeschnittene Maßnahmen: Im französischsprachigen Teil Belgiens gilt die Aufmerksamkeit gezielt den "Neuankömmlingen", die sich erst seit weniger als einem Jahr in Belgien aufhalten.

Ein erster Schwerpunkt liegt hierbei auf einer Orientierungshilfe. In der betreffenden Einrichtung bzw. Schule wird ein Integrationsrat gebildet, der dafür zuständig ist, dass die Neuankömmlinge gut aufgenommen werden, sich zurechtfinden lernen und den für sie optimalen Bildungsweg einschlagen können. Die flämischsprachige Gemeinschaft erkennt außerdem die im Ausland erworbenen Zeugnisse und Berufsabschlüsse an.

In speziellen Brücken-Klassen, die die Neuankömmlinge je nach Niveau parallel zum regulären Unterricht besuchen können, werden die sprachlichen und soziokulturellen Anpassungsprobleme der Kinder aufgefangen. Die deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens stellt den zu fördernden Schülern Hilfe in Form von zusätzlichem Lehrpersonal zur Verfügung. Anfang 2001 wurde auch eine Partnerschaft zwischen der französischsprachigen Gemeinschaft und Vertretern der zahlenmäßig bedeutendsten Herkunftsländer ins Leben gerufen. Mittels Kursen und Veranstaltungen sollen Sprache und Kultur der jeweiligen "alten Heimat" vermittelt und lebendig gehalten werden. Im flämischsprachigen Teil werden auch die Feiertage der Herkunftskultur berücksichtigt: da sie ein wichtiger Bestandteil des kindlichen Glaubens- und Weltbildes sind, haben die Schüler an diesen Tagen schulfrei.

Die Vielzahl interessanter Initiativen kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese allzu oft allein auf das Engagement von einzelnen Schulleitern oder Lehrern zurückgehen. Eine gleichberechtigte Ausbildung ohne Diskriminierung, Sprachkurse ab dem Kleinkindalter - das sind ehrgeizige und wirkungsvolle Projekte. Aber Maßnahmen im kulturellen Bereich sind nach wie vor rar gesät, und interkulturelle Projekte im Unterricht sind immer noch das Ergebnis einzelner Initiativen und bleiben auf Schulen mit starkem Migrantenanteil begrenzt.

Sabine Finzi, RADIUS Brüssel 
(Übersetzung aus dem Französischen: 
Stefanie Kuballa-Cottone)

PISA´s Klassenbester

Zwei Mal in Folge war Finnland PISA-Sieger. Seitdem gilt das Land als Erfolgsmodell und dessen Schulsystem als Vorbild für Verbesserungsansätze in den Ländern, die schlechter abgeschnitten haben. Worin liegt der Erfolg begründet? Andreas Schleicher, internationaler PISA-Koordinator, nennt es das "durch und durch lernfähige Schulsystem". In Finnland besuchen alle Kinder vom 1. bis zum 9. Schuljahr die "Peruskoulu", die Gemeinschaftsschule. Ganztagsschulen sind die Regel. Es gibt keine Sonderschulen und kein Sitzenbleiben. Schüler mit Lernschwierigkeiten gehen in die "kleine Klasse", in der eine "Speziallehrerein" extra für sie zuständig ist. Zu einzelnen Stunden wird das Kind aus dem Klassenunterricht herausgenommen und geht in den Förderunterricht. Im 5 Mio. Einwohner zählenden Finnland gab es in den vergangenen Jahren jeweils zwischen 150 und 200 Jugendliche, die nach der 9. Klasse keinen Abschluss bekommen haben. Im 80 Mio. Einwohner zählenden Deutschland bleiben jährlich ca. 10 % des Jahrgangs ohne Hauptschulabschluss. Keine finnische Klassenlehrerein begreift, dass von ihrer deutschen Kollegin erwartet wird, dem Problem unterschiedlicher Leistungsniveaus durch "Binnendifferenzierung" beizukommen - noch dazu ohne Spezialkompetenz in Diagnostik und Methodik.

Finnische Schulen, die über eine sehr weitgehende Autonomie verfügen, z.B. was die Gestaltung des Lehrplans anbelangt, verfügen über multikompetente Teams: Neben Lehrern und jenen mit Spezialausbildung zur Förderung der schwachen Schüler gibt es Schulgesundheitsfürsorger, -psychologen und -sozialarbeiter, so genannte Kuratoren. Migrantenkinder fängt das Bildungssystem besser auf, als in Deutschland. Vor der Gemeinschaftsschule können sie einen vorbereitenden Unterricht besuchen. In der Grundschule haben sie die Möglichkeit, Unterricht in Finnisch oder Schwedisch zu bekommen. Der Förderunterricht ist eine zusätzliche Hilfe, der je nach Lernfach auch in der Muttersprache des Schülers erteilt werden kann. Falls die Finnisch- oder Schwedischkenntnisse nicht in allen sprachlichen Kompetenzbereichen dem Muttersprachniveau entsprechen, erhält er in der Gesamtschule und in der gymnasialen Oberstufe Finnisch- oder Schwedisch-Unterricht. Im Abitur können Migrantenschüler anstelle der Prüfung in Finnisch oder Schwedisch als Muttersprache dann "Finnisch oder Schwedisch als Zweitsprache" wählen.

Das klingt alles nach paradiesischen Zuständen. Doch es gibt auch Kenner, die das hohe Lied auf Finnland relativieren und betonen, dass sich dieses System durch spezifische sozio-kulturelle und schulische Faktoren auszeichnet, die den Vergleich mit anderen Ländern im Grunde verbieten. Zum Beispiel spielen die in Deutschland herrschenden Probleme der Migrantenkinder - aufgrund der "Undurchlässigkeit" des Schulsystems, der Sprachdefizite und der Abhängigkeit von sozialer Herkunft - in Finnland bei einem Ausländeranteil von nur 2% (konzentriert in wenigen Großstädten) de facto keine Rolle. Deutschland verfügt angesichts der deutlich höheren Einwohner- und Migrantenzahl über größere Schulen, größere Klassen und eine deutlich höhere Heterogenität in den Klassen. Während in Deutschland die durchschnittliche Klassenstärke 24,1 beträgt, sind es in Finnland 19,5. Und nur 3 % der finnischen Schulen haben mehr als 500 Schüler. Skeptiker betonen darüber hinaus, dass ausländischen Besuchern die "pädagogischen Zugspitzen" gezeigt würden: modernste, höchst eindrucksvolle Schularchitektur und -ausstattung sowie ausgewählte, von exzellenten Lehrkräften geführte Klassen.

Doch unabhängig davon: Das kluge System der integrierten pädagogischen Unterstützung für schwache oder zeitweise in ihrem Lernverhalten benachteiligte Schüler hat sicherlich Vorbildfunktion und könnte helfen, die starken Segregationstendenzen im deutschen Bildungssystem abzubauen.

Vanessa Franz

That`s great, Dear

Großbritannien galt lange nicht als vorbildlich in Sachen Betreuung von Kleinkindern, bis die Regierung Blair sich entschloss, kräftig darin zu investieren. Seit 1997 entstehen die Early Excellence Centres vor allem in wirtschaftlich schwachen Regionen. Die Idee dahinter: Kinder werden stark, wenn ihre Eltern gestärkt werden. Nach Art eines Supermarkts für soziale Dienstleistungen bieten die Familienzentren nicht nur flexible Betreuung für Kleinkinder, sondern Nachmittagsbetreuung für Schüler, Spiel- und Krabbelgruppen, Sprachförderunterricht für Eingewanderte, einen Familientreff sowie berufliche Qualifizierung, Erziehungs- und Gesundheitsberatung für Erwachsene. Die Einbeziehung der Familienmitglieder geht also deutlich über das hinaus, was in deutschen Elterninitiativen - oder auch Kursen wie "Mama lernt Deutsch" - üblich ist. Ca. 100 solcher Einrichtungen gibt es in Großbritannien. Die erste, das Pen Green Zentrum von Corby, entstand schon vor 23 Jahren.

Warum setzt man gerade im Kleinkindalter an? Eltern sind die besten Experten für ihr Kind, lautet eins der Prinzipien der Early Excellence. Wenn man ihre Kompetenz anerkennt und sich mit ihnen über die Entwicklung des Kindes berät, sind sie auch für andere Angebote offen. Auch Mütter und Väter aus ärmeren, bildungsfernen oder eingewanderten Familien seien dadurch besser zu erreichen. Wichtiger noch als die Vielzahl der Dienste und Vernetzungen sei die positive Grundhaltung des Zentrums insgesamt, schrieben Jutta Burdorf-Schulz und Renate Müller, die im Berliner Pestalozzi-Fröbel-Haus eine Kita nach dem Pen-Green-Modell aufgebaut haben. So sei der Satz "That´s great, Dear" der häufigste, den sie während ihres einwöchigen Aufenthalts in Corby gehört hätten. Pädagogen bekommen beim Begriff "Early Excellence" leuchtende Augen. In der Bevölkerung jedoch haftet den "Elterngärten" oft der Ruf eines Sammelbeckens für Familien mit Defiziten an.

2005 hat sich das nordrhein-westfälische Familienministerium die Aufgabe gestellt, bis 2010 ca. ein Drittel aller NRW-Kitas zu Familienzentren nach britischem Vorbild zu entwickeln. Die Pilotprojekte sind bereits gestartet, z.B. in Bonn-Tannenbusch, einem Viertel mit vielen Migranten. Im Idealfall soll sich beispielsweise eine Mutter, die ein unverständliches Amtsschreiben bekommen hat, an die Erzieherin wenden. Diese würde ihr nicht nur den Brief übersetzen, sondern auch einen Termin beim Amt vereinbaren: Die Erzieherin ist auch ein wenig Sozialarbeiterin. Zu einer psychologischen Beratung oder in die Sprachtherapie gehen heutzutage vor allem Mittelschichtseltern. Das soll sich dadurch auch ändern.

Drei Modelle sieht das NRW-Konzept vor. Beim ersten halten alle Familienzentren ein genau definiertes Spektrum an Dienstleistungen "unter einem Dach" vor. Beim zweiten sind sie "Lotsen", die an kooperierende Beratungsstellen, Kinderärzte oder Selbsthilfegruppen in der Nachbarschaft weiterleiten. Beim dritten können sie als "Galerie" in ihren Räumen diverse Dienste bereitstellen, deren Zusammensetzung je nach Ort und Möglichkeiten variiert. Dies kostet allerdings viel Geld. Während der Etat des Pen Green Zentrums 430.000 Pfund im Jahr beträgt, um 30 Lehrer, Sozialarbeiter, Kindergärtner und Verwaltungsangestellte zu bezahlen, wird der Berliner Modell-Kindergarten von der Dürr-Stiftung mit "nur" 900.000 Euro für sechs Jahre gefördert. Das Land NRW stellt für alle Pilot-Kitas nur rund 500 000 Euro zur Verfügung, die vor allem in die Fortbildung der Erzieherinnen fließen sollen. Kritiker glauben deshalb, ohne zusätzliches Geld, Personal und Mitarbeiter mit Migrationshintergrund werde es lediglich eine "Umetikettierung" geben.

Matilda Jordanova-Duda

Infos: www.early-excellence.de 

Werte und Verhalten statt nur Lerninhalte

Die kontinuierliche Zunahme ausländischer Schüler in Italien während der vergangenen Jahre stellt die Aufnahmekapazität des Schulsystems auf die Probe. Die vor allem in Schulen mit besonders hohem Migrantenanteil ergriffene Hauptmaßnahme besteht noch immer in der Vermittlung grundlegender Lese- und Schreibkompetenzen, damit sie dem Unterricht folgen können. Das wichtigste Lernmodell lässt sich als integriertes Modell bezeichnen: Die Schüler werden gemeinsam mit Schülern ihres Alters in Klassen eingegliedert (in Italien befinden sich über 40 % der ausländischen Schüler in den Grundschulen). Die dort für die italienischen Schüler vorgesehenen Unterrichtsmethoden und Lerninhalten werden, falls verfügbar, durch (im Wesentlichen auf die Sprache bezogene) individuelle Fördermaßnahmen ergänzt. Ansonsten vertraut man großteils auf die Professionalität und den guten Willen der Lehrer, die bei schwierigen Fragen jedoch eher alleine gelassen werden.

Ein weiterer Maßnahmentyp, der noch nicht weit verbreitet ist, besteht in der Einbeziehung der Muttersprache. Hier wird die Muttersprache als Ressource der jungen Immigranten betrachtet, die ihnen beim Erlernen des Italienischen helfen kann. Entsprechend sind zwei gleichzeitig verlaufende und ineinander greifende Lerneinheiten zur Sprachvermittlung vorgesehen.

Unter den vielen so genannten "Best Practice"-Verfahren zur Integration, die in den letzten zehn bis 15 Jahren getestet wurden, erscheint ein Ansatz besonders interessant. Bei ihm werden insbesondere Projekte von Trägern außerhalb der Schule (Verbände, nichtstaatliche Organisationen etc.) einbezogen, deren Bedeutung an den Schulen stetig steigt. Es handelt sich hierbei um eine didaktische Methode, die typisch ist für die so genannte neue Bildung (zu den Themen Interkulturalität, Frieden, Umwelt usw.), das heißt um Projekte, die Zielsetzungen in Bezug auf Werte und Verhalten eine höhere Bedeutung beimessen als Lerninhalten. Frontalunterricht wird vermieden, stattdessen wird Unterricht in kleinen Gruppen nach interaktiven Methoden (Von-Sich-Erzählen, Rollenspiele usw.) bevorzugt.

Stefano Morando, oltreilponte Diversity Education Network (Übersetzung aus dem Italienischen: Tanja Schneider)

Kindern der Banlieue zum Erfolg verhelfen


Arabischstämmige Schüler in der Banlieue

Die Krise der Vorstädte hat in Frankreich zu einer General-Mobilisierung für die Chancengeichheit geführt, so im Department Seine-Saint-Denis in der Pariser Banlieue. Hier haben sich vier Gymnasien, acht Universitäten, 19 Unternehmen, die Region Ile-de-France und der Staat einem Ziel verpflichtet: Alle verfügbaren Ressourcen sollen zusammen geführt werden, um den Gymnasiasten des Départments die Freude und die Mittel zu geben, damit sie erfolgreich werden. Ihnen soll gezeigt werden, dass die Gesellschaft bereit ist, ihnen zuzugestehen, wozu sie nach ihren Schulleistungen einen Anspruch erworben haben. Das besondere daran, hebt die Zeitung Le monde (29.08.06) hervor, ist, dass es sich bei dieser Anstrengung um keine Reform, sondern ein experimentelles Projekt für rund 500 Schülerinnen und Schüler handelt, das im Schuljahr 2006/07 begonnen hat.

Ins Leben gerufen wurde das Projekt durch eine Initiative professioneller Akteure aus dem Bereich der Nationalen Erziehung, die das Konzept von November 2005 bis Januar 2006 erarbeitet haben. Mit einer Vielzahl von best-practice-Ansätzen wollen sie die Schüler individueller und innovativer begleiten. So sollen Schüler und Lehrer auch außerhalb des Unterrichts gemeinsam arbeiten, es soll Kompetenzbilanzen und Evaluierungen von Fortschritten geben, wobei stärker auch positive - statt vorwiegend negative - Rückmeldungen gegeben werden. Jedem Schüler soll ferner ein Tutor an die Seite gestellt bekommen, abends und im Urlaub soll es obligatorische Begleitangebote geben. Insgesamt geht es hierbei auch darum, gegen die Negativklischees anzukämpfen, mit denen bestimmte Schulen behaftet sind.

Parallel dazu hat Premierminister Nicolas Sarkozy nun vorgeschlagen, die "Carte scolaire" abzuschaffen. Diese sei 1963 eingeführt worden, um Ungerechtigkeiten bei der Belegung von Schulen zu vermeiden, habe sich aber in ihr Gegenteil verkehrt, schrieb er in einem Text für Le monde (17.09.06). Statt zu einer Mischung der Schülerschaft einzelner Schüler zu führen, sei Segregation das Ergebnis, da wohlhabende Eltern ihre Kinder nicht auf eine der zur Wahl stehenden öffentlichen Schulen, sondern auf Privatschulen schicken würden.

Ekkehart Schmidt-Fink

Infos: www.sciences-po.fr/presse/lycee/ 

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Lernen beim Kochen und Tanzen

Ein junger Mann trainiert regelmäßig in einer Break-Dance Gruppe. Er bringt viel Ausdauer mit, hat sich seinen Solopart selbst ausgedacht und ist schon mal vor Publikum aufgetreten. Was hat er dabei gelernt? Sind diese Fähigkeiten für einen künftigen Arbeitgeber interessant? Ein Mädchen geht einkaufen, kocht und betreut jüngere Geschwister. Sie übernimmt also innerhalb der Familie Verantwortung und kann improvisieren und mit Geld umgehen. Ihre Freundin trägt nach der Schule Zeitungen aus. Auch bei schlechtem Wetter zieht sie los: ein Beleg für Disziplin und Selbstmotivation? Das europäische Projekt ICOVET (Informal Competences and their Validation in Vocational Education and Training) will solche Fähigkeiten, die außerhalb der Schule und Berufsausbildung erworben werden, dokumentieren und nutzbar machen.

Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat zusammen mit Partnern aus Großbritannien, Griechenland, Spanien, Rumänien und Irland einen Interviewleitfaden für Lehrer und Jugendhilfearbeiter erstellt. Im Gespräch mit Jugendlichen sollen sie anhand von Fragen zu den sieben Bereichen Freizeit, Familie, Schule/ Ausbildung, freiwilliges Engagement, Jobs, Gesundheit und besondere Lebenssituationen herausfinden, was diese können. Die Fähigkeiten werden in einem Dokument festgehalten, das für die Berufsberatung oder bei Bewerbungen benutzt werden kann. Zusätzlich kann man sie in den Europass übertragen, der Bewerbungen innerhalb der EU vereinfachen soll.

ICOVET will vor allem benachteiligten Jugendlichen, z.B. aus Migrantenfamilien, helfen, die von der Schule oft frustriert sind. Sie seien froh, dass sie endlich jemand fragt, was sie sonst noch machen, hat Ulrike Richter von DJI festgestellt, als sie den Leitfaden erprobte. Der Interviewer wird nicht jede Angabe der Jugendlichen prüfen, es kommt vor allem auf die Selbsteinschätzung an. Aber einiges könnten etwa die Mutter oder der Vereinstrainer bestätigen.

In Deutschland spielt das informelle Lernen bisher keine Rolle. Bewerber um Arbeits- und Ausbildungsplätze werden ausschließlich nach ihren Schulnoten beurteilt. In Großbritannien dagegen, schreibt der Bildungsexperte Graham Attwell auf der DJI-Website, gebe es bereits Instrumente zur Anerkennung der außerschulischen Fähigkeiten, die sog. Akkreditierung von früherem Lernen. Das hinge damit zusammen, dass der britische Arbeitsmarkt weniger reguliert sei als der deutsche und dort auch die Karriereberatung recht verbreitet sei. Das Beharren auf formellen Qualifikationen sei in Zeiten raschen wirtschaftlichen Wandels hinderlich, so Attwell. (mjd)

Infos: www.dji.de/cgi-bin/projekte 

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Europäisches Bildungsnetzwerk

Eurydice, das Informationsnetz zum Bildungswesen in Europa, ist Bestandteil von Aktion 6.1 des Sokrates-Programms, dem gemeinschaftlichen Aktionsprogramm im Bereich der allgemeinen Bildung. Auf der Webseite des Netzwerkes (www.eurydice.org) finden sich umfangreiche Daten zum Bildungssystem einzelner europäischer Länder. Für jedes der 31 Länder, die das Eurydice-Netzwerk abdeckt, kann auf folgende Informationen zugegriffen werden: Allgemeine Beschreibungen der Bildungssysteme, je nach Bedarf mit unterschiedlicher Detailgenauigkeit, Datenbanken für die Entwicklung von Indikatoren, Thematische Länderberichte. Die Länderberichte beruhen auf einer einheitlichen Gliederung und bieten unter anderem auch interkulturelle Ansätze im Schulwesen. (esf)

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Neue OECD-Studie

Den letzten Platz hat Deutschland bei einer Studie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belegt, die die Situation von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund in 17 Ländern analysiert. Die Ergebnisse dieser Untersuchung hat die OECD gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz und der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration am 15. Mai 2006 in Berlin vorgestellt. Bei der Studie mit dem Titel "Wo haben Schüler mit Migrationshintergrund die größten Erfolgschancen. Eine vergleichende Analyse von Leistungen und Engagement in PISA 2003" handelt es sich um eine Sonderauswertung der im Jahr 2003 für den internationalen Leistungsvergleich PISA erhobenen Daten. Sie untersucht, wie gut Schüler mit Migrationshintergrund im Alter von 15 Jahren in wichtigen Schulfächern (vor allem in den Bereichen Mathematik und Lesekompetenz, aber auch in Naturwissenschaften und in Bezug auf Problemlösefähigkeiten) abschneiden, wie sie sich selbst als Lernende einschätzen und wie sie generell zur Schule eingestellt sind.

Zwar attestiert die Studie Schülern mit Migrationshintergrund eine hohe Lernmotivation und positive Einstellung zur Schule - dies spiegelt sich jedoch nicht in großen Bildungserfolgen wider: Etwa ein Schuljahr liegen im Ausland geborene Schüler vom Leistungsstand her hinter ihren Mitschülern ohne Migrationshintergrund zurück. Nur in den drei klassischen Einwanderungsländern Australien, Kanada und Neuseeland sind die Leistungen der beiden Schülergruppen vergleichbar. Eng ist dabei der Zusammenhang zwischen Kenntnissen der Landessprache und Schulerfolgen: Länder, denen es gelingt, Schüler mit Migrationshintergrund in das Bildungssystem zu integrieren, zeichnen sich insbesondere durch fest etablierte Sprachförderprogramme mit relativ klar definierten Zielen und Standards aus.

Im Gegensatz zu allen anderen Vergleichsländern verstärken sich in Deutschland die schulischen Misserfolge in der zweiten Generation. In Mathematik erreichen 47 Prozent der in Deutschland geborenen Migrantenkinder nicht das Niveau, das sie für eine Berufsausbildung brauchen; von den neu ins Land kommenden Kindern sind es ein Drittel. Ähnlich sind die Ergebnisse für die Lesekompetenz. Deutschland liegt damit auf dem letzten Platz der 17 untersuchten Länder. Das gilt auch in Bezug auf den Bildungshintergrund der Eltern von Schülern mit Migrationshintergrund: sie haben in Deutschland im Durchschnitt fünf Jahre weniger Schulbildung als Eltern von Schülern ohne Migrationshintergrund, was die größte Abweichung aller Länder darstellt. Dies hat unweigerlich Konsequenzen für die Möglichkeiten der Eltern, den Bildungsprozess ihrer Kinder zu begleiten. Verstärkt wird die Bildungsbenachteiligung der Schüler schließlich auch dadurch, dass sich auf den Schulen, die sie besuchen, häufig unterschiedliche sozioökonomische Problemlagen kumulieren. Lernen und Lernerfolge werden dort erschwert.

Jedoch sind diese Ergebnisse mit Vorsicht zu betrachten: Da die für PISA erhobenen Daten nur die Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt abbilden, lassen sich keine definitiven Schlüsse über die Entwicklung von Leistungsunterschieden im Zeitverlauf und zwischen den Generationen ziehen. Hinzu kommt, dass es sich bei den Schülern der ersten Generation in Deutschland vorrangig um Spätaussiedlerkinder und -jugendliche handelt, während Schüler der zweiten Generation überwiegend türkische Eltern haben - die Gruppen sind somit nicht direkt vergleichbar. Unabhängig davon unterstützen die vorliegenden Daten die aktuelle Diskussion um die Notwendigkeit umfassender Reformen des Bildungssystems, insbesondere mit Blick auf die Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund. Erste Schritte hierzu haben die Länder bereits eingeleitet.

Katrin Hirseland, Referat Integrationsprogramm, Grundsatzfragen der Integrationsförderung (aus: Blickpunkt Integration 3/06)

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