Integration in Deutschland 3/2006, 22.Jg., 30. September 2006

INTERVIEW

"Wir brauchen klare Bedingungen"

Wolfgang Kreissl-Dörfler zur EU-Integrationspolitik

Wolfgang Kreissl-Dörfler (55) ist seit 12 Jahren Mitglied des Europäischen Parlaments. Der in Bayern aufgewachsene Landwirt und Soziapädagoge war von 1979 bis 1985 als Entwicklungshelfer in Brasilien tätig, von 1986 bis 1987 in Angola. 1992 war er als Wahlbeobachter der UNO in Angola, 2001 leitete er die EU-Wahlbeobachtung in Ost-Timor. 1983 trat er den Grünen bei, wurde 1994 in das EP gewählt und wechselte im Jahr 2000 zur SPD. In Brüssel und Straßburg engagiert er sich im Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Inneres und Justiz vor allem für den Aufbau einer gemeinsamen Migrations- und Asylpolitik.

AiD: Hat sich seit Beginn Ihrer Tätigkeit in Brüssel die Bedeutung des Zuwanderungsthemas auf europäischer Ebene verändert?

Kreissl-Dörfler: Die Debatte ist interessanter geworden und es wird immer mehr gefordert, dass wir eine europäische Lösung brauchen und nicht nur eine nationalstaatliche. Aber bisher ist noch nicht allzu viel passiert. Ich gaube, dass es eine der wesentlichen Herausforderungen für die EU ist, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.

Sie haben als junger Mann auch für Asylbewerber gearbeitet?

Ja, es ging damals mit der Otto Benecke Stiftung in Murnau um die Integration von Asylberechtigten. Die lebten auf die verschiedensten Dörfer verteilt und ich habe die Sozialbetreuung gemacht und mich um die ganzen Integrationsfragen gekümmert. Es gab große Unterschiede: zum einen Boat-People aus Vietnam und viele Flüchtlinge aus den Ostblockstaaten. Ich war damals kurz zwischen zwei Brasilien-Aufenthalten hier und habe kurz ich in dem Bereich gearbeitet.

Alle Welt schaut zur Zeit auf die Bilder strandender Flüchtlinge auf den Kanaren und Lampedusa. Im Juni haben Sie sich vor Ort umgeschaut. Was war Ihr Eindruck?

Im Juni war die Situation noch nicht so dramatisch wie jetzt, es war noch nicht der ganz große Migrationsstrom da. Man redet immer von "Wirtschaftsflüchtlingen" - ich mag diesen Begriff nicht. Das sind Menschen, die versuchen, ihre Lebenssituation zu verbessern. Die spanischen Behörden geben sich alle Mühe, das ordentlich und menschenwürdig zu managen. Nur: jetzt sind die Lager überfüllt. Das ist natürlich schon eine Herausforderung, die europäisch gelöst werden muss. Wir können weder die Spanier, noch die Malteser, noch die Italiener dabei alleine lassen. Denn die Menschen wollen ja nach Europa und nicht nur speziell in ein Land.

Ist der Strom irregulärer Einwanderung an den Ostgrenzen der EU nicht gleichermaßen problematisch, nur weniger spektakulär?

Ja. Da werden auch sehr viele Menschen zum Teil bei unmenschlichen Bedingungen geschleust - in Containern und LKW's, zum Teil auch so, dass es lebensbedrohlich ist. Man muss da auch die hohe kriminelle Energie der Schleuser sehen. Denen geht es ums Geld und nicht um ein Schicksal. Und wenn da jemand stirbt, ist das denen ziemlich egal. Das ist nicht so spektakulär. Ähnlich ist das mit den Lateinamerikanern in Spanien, die nicht so auffallen, weil sie die Sprache sprechen und meistens wie Spanier aussehen. Und dann ziehen die halt weiter. Es komm dann aber gelegentlich zu interessanten Fällen, wenn illegale lateinamerikanische Migranten zum Beispiel vom Patron nach Deutschland geschickt wurden, um einen Transport zu begleiten. Einer - ein Ecuadorianer - wurde dann aufgegriffen und saß dann acht Monate im Abschiebehaft in Stadelheim. Dem war die Grenzproblematik gar nicht klar, weil er den "Schengen-Raum" nicht kannte. Also gut, dann fuhr er halt nach Deutschland, begleitete den Transport, lud die Orangen mit aus und wollte wieder zurück fahren. Und wurde eben dann bei einer Schleierfahndung mit aufgegriffen.

Was kann und will die EU tun, um den Flüchtlingsstrom einzudämmen?

Die Vorschläge der EU-Kommission bei der Afrikakonferenz in Rabat im Juli gehen in die richtige Richtung. Bei der Bekämpfung der illegalen Migration kommt es darauf an, diejenigen mit aller Härte zu bestrafen, die illegale Einwanderer gnadenlos ausbeuten. Gleichzeitig müssen legale Möglichkeiten zur befristeten Beschäftigung eröffnet werden. Die EU-Kommission schlägt unter anderem europaweit einheitliche Regeln bei der Vergabe von kurzzeitigen Visa vor. Darüber hinaus will sie schwere Strafen für Arbeitgeber verhängen, die Migranten meist zu Hungerlöhnen illegal beschäftigen.

Deren Nachfrage ist ja groß.

Ja, natürlich. Aber die Arbeitsbedingungen sind so nicht akzeptabel. Da muss eben der nationale Gesetzgeber - sei es in Spanien oder in Italien - auch sagen: Wer Menschen so beschäftigt und ausbeutet, muss bestraft werden. Man kann nicht einfach nur sagen: Gut, die sind jetzt als Arbeiter willkommen, aber wir tun für deren Rechte nichts. Das geht nicht. Darum war es ja auch wichtig, dass die spanische Regierung damals klar gesagt hat: Wir machen ein Programm zur Legalisierung. Ich kann nicht 800.000 Leute einfach in der Illegalität lassen. Das sind Probleme, die auf uns ja auch zukommen. In diesem Zusammenhang steht auch die Debatte um das Bleiberecht.

Die Vorschläge der Kommission sind ein längst überfälliger Schritt. Seit 30 Jahren beobachten wir dieses Phänomen, nun müssen auch die europäischen Regierungen endlich handeln. Der Rat der Europäischen Union muss endlich seine Blockade in diesen Fragen aufgeben. Wir brauchen endlich klare Bedingungen für befristete Arbeitsverhältnisse in der EU.

Und müssen die Fluchtursachen bekämpfen!

Ja, das ist eine langfristige und mittelfristige Sache, das wird man nicht von heute auf morgen lösen können. Wir müssen auch dafür sorgen, dass Entwicklungsgelder nicht weiter bei korrupten Regierungen landen. Wichtig sind auch vernünftige Rückführungsabkommen mit den Herkunftsstaaten.

Integrationspolitik wird von vielen noch als Aufgabe der Nationalstaaten gesehen, nicht der EU selbst. Teilen sie diese Meinung?

Die EU kann natürlich mit Rat und Tat zur Seite stehen. Aber die Nationalstaaten und die Bevölkerung sind natürlich auch gefragt, selbst aktiv in der Integrationspolitik mitzuwirken. Das ist ja keine Einbahnstraße. Die EU kann, dadurch, dass wir offene Grenzen haben, natürlich auch Konzepte mit entwerfen, beraten, Hilfestellung geben: Wie machen es die Spanier, wie machen es die Franzosen? Man muss das Rad nicht immer neu erfinden, sondern man muss fragen: Was ist erfolgreich gewesen und was nicht?

Man muss natürlich auch schauen, inwieweit wir eine gemeinsame Migrations- und Arbeitsmarktpolitik machen können. Da gibt es unterschiedliche Vorstellungen in den Ländern. Der deutsche Innenminister will das nicht. Andere - die näher dran sind - wollen das. Wir brauchen, glaube ich, schon eine gemeinsame Politik, denn mit den offenen Grenzen, wie wir sie im Schengen-Verbund haben, geht das gar nicht anders. Das kann man nicht mehr nationalstaatlich lösen. Wir brauchen auch eine Arbeitsmarktpolitik, bei der man sagt: Wir geben Menschen eine Chance, mal für ein bis zwei Jahre hier legal zu arbeiten. Die können dann auch zurückreisen und wieder einreisen, je nach dem wie die Situation ist. Aber eines werde ich nie eindämmen können: Ich werde immer illegale Migration haben, das ist so alt wie die Menschheit.

Was plant die Kommission konkret an Integrationsprogrammen?

Da ist die finanzielle Unterstützung durch den geplanten Integrationsfonds. Man muss aber auch fragen: Wie sind die Arbeitsbedingungen, die Lebensbedingungen der Menschen? Hierzu kann man auch Programme machen. Aber vieles liegt auch im altruistischen Bereich. Das werde ich nie nur mit Geld oder Programmen machen können, sondern es geht auch darum: Wie bereit ist die Bevölkerung, die Migranten zu integrieren? Das ist eine nationale Debatte zwischen allen gesellschaftlich relevanten Kräften.

Wie bewerten Sie die Ergebnisse des deutschen "Integrationsgipfels" vom 17. Juli?

Wichtig ist, dass überhaupt einmal diskutiert worden ist, dass man so etwas macht - weil es natürlich auch eine Öffentlichkeit herstellt. Man sagt: Wir als Regierung sind auch bereit, hier in so einem Integrationsgipfel zusammenzuarbeiten. Aber es darf halt nicht nur bei Lippenbekenntnissen bleiben à la "nun hat man halt mal einen Gipfel mehr gemacht und eine Task Force gegründet". Darin ist man ja immer stark. Es muss jetzt auch weiter gehen, es muss immer wieder erinnert werden, dass wir an diesem Thema arbeiten müssen. Da ist es natürlich hilfreich, wenn die Verantwortlichen, ob dies die Bundeskanzlerin ist, die Führer aller großen Parteien oder auch der Gewerkschaften und der Kirchen, immer wieder sagen wie wichtig uns eine Integrationspolitik ist, damit man es nicht nur bei einem Gipfel belässt - und das war es dann.

Insgesamt fast 20 Jahre leben und arbeiten Sie nun schon im Ausland. Sie haben einmal gesagt, am liebsten würden Sie in einem Land leben, das eine Mischung aus Bayern und Brasilien ist. Wie gefällt Ihnen diesbezüglich Brüssel?

Brüssel ist nicht so meine Stadt, das muss ich ganz offen sagen, das liegt natürlich auch daran, das mein Französisch eher rudimentär ist und ich so gut wie keine Wochenenden da bin, weil ich zu Hause Aufgaben zu erledigen habe. Auch die persönlichen Bezüge und Kontakte sind zu Hause. Und als Mitglied im bayrischen Präsidium der SPD und im Landesvorstand kommen natürlich noch viele andere Aufgaben dazu, so dass ich wenig Zeit für Brüssel habe. Hier gibt es drei oder vier Meeting-Points, wo ich immer hingehe, aber sonst komme ich hier vor abends 20 oder 21 Uhr auch nicht aus dem Parlament heraus. Meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind natürlich ganz anders in Brüssel: Die leben da, sind immer hier, außer im Urlaub. Ich dagegen pendele einfach (und diese Fliegerei nervt oft). Dann ist man dann froh, wenn man mal nicht reisen muss. Ich bin am Montagvormittag hierher gekommen am Nachmittag nach Berlin geflogen, gestern wieder hergekommen und heute fliege ich wieder zurück. Abends eine Veranstaltung, dann das Büro in München - das wartet ja auch. Die Wahlkreisarbeit ist schließlich auch wichtig. Da gilt es, Europa in einfacher Weise zu erklären. Das alles macht es schwierig, in Brüssel heimisch zu werden. Dazu müsst man auch viel mehr Zeit verbringen hier.

Also man lebt hier im Prinzip wie auf einer Insel?

Man lebt aus dem Koffer, ja. Es kommen noch viele andere Reisen dazu, dahin, dorthin jetzt mit dem einen Ausschuss, oder jetzt drei Tage auf die Kanarischen Inseln und zu Flüchtlingslagern in Libyen… Da verbringt man viel Zeit in Hotel und bei Gesprächen und hat weniger Freizeit. Freizeit im klassischen Sinne gibt es dabei kaum.

Vielen Dank!


Das Gespräch führte Ekkehart Schmidt-Fink.

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