Integration in Deutschland 3/2006, 22.Jg., 30. September 2006

STADTPORTRAIT

*) Diese Beiträge wurden im Druck-Exemplar nicht veröffentlicht!


East Side Stories

London - Weltstadt im Wandel

Nach den Bus- und U-Bahn-Attentaten vom 7. Juli 2005 und den im August 2006 vereitelten Flugzeugabstürzen diskutiert Großbritannien das Phänomen der "home grown terrorists" und fragt sich, ob das bisher äußerlich im Wesentlichen problemlose Zusammenleben verschiedener Kulturen eine Illusion war. Am irritierendsten ist, dass die Täter keineswegs aus den übel beleumundeten innerstädtischen Zuwandererquartieren wie dem East End, sondern aus den eher gutbürgerlichen Vorstädten stammen.

Zehn der verhafteten 24 Verdächtigen, die den Absturz von neun Flugzeugen auf dem Weg in die USA geplant haben sollen, stammen aus Walthamstow im Londoner Osten. Die Familien der unauffälligen und scheinbar gut integrierten jungen Männer leben rund um die Masjid-E-Umar-Moschee. Sie wird von der Deobandi-Sekte dominiert, deren Wurzeln in Indien liegen. Neben Muslimen leben hier auch Hindus und Buddhisten. Der pakistanisch-britische Autor Hanif Kureishi hat diese Welt in den Romanen "Das schwarze Album" und "Der Buddha aus der Vorstadt" sowie den Drehbüchern zu "Mein wunderbarer Waschsalon" und "Sammy und Rosie tun es" beschrieben. Im "Schwarzen Album", das 1995 erschien, gerät ein Junge auf der Suche nach Identität in das Spannungsfeld zwischen intellektuellem Liberalismus und religiösem Fanatismus, aber kaum etwas deutete in diesen Milieuschilderungen auf die Möglichkeit solch brutaler Anschläge hin.

Am interessantesten für den zufälligen Besucher von Walthamstow ist noch, dass die Moschee früher eine Synagoge war - ein Hinweis auf die jahrhundertelange Abfolge großer Zuwanderergruppen in London. Dass London die wohl faszinierendste und dynamischste multiethnische Stadt Europas ist, zeigt sich in diesen eher unspektakulären Vorstädten ganz ähnlich wie in den pulsierend-bunten Innenstadtvierteln. Abseits des Zentrums zu nennen sind jeweils von einer Gruppe dominierte Viertel wie das "jamaikanisch-karibische" Brixton, das "türkische" Stoke Newington oder eben die "indischen" Viertel Walthamstow im Osten und Southall im Westen, wobei in letzterem viele Sikhs aus dem Punjab leben. Die größeren Communities haben zudem in der Innenstadt Kristallisationspunkte mit der wichtigsten Infrastruktur aufgebaut. So nördlich des Marble Arch an der Edgware Road die Araber, in Notting Hill Schwarze aus der Karibik, in Clerkenwell und Soho die Italiener und wenige Meter südlich von Soho in der Lisle- und der Gerrard Street die in den 1950er-Jahren von Hongkong-Chinesen entwickelte "Chinatown" (Titelfoto).

Der interessierte Besucher kann hier Tage verbringen. Wir haben uns das East End vorgenommen. Es ist Hauptwohnort und Herz vieler Communities vom indischen Subkontinent, zunehmend aber auch von Osteuropäern. Mrs. Khan ist irritiert, dass wir ihre Bed & Breakfast-Unterkunft nicht wegen der Nähe zu Tower Bridge und Tate Modern, sondern zum nördlich des Hafens liegenden East End gewählt haben. Uns zieht "Banglatown" an, das Viertel der Zuwanderer aus Bangladesh, Pakistan und dem indischen West-Bengalen. Unsere Landlady - obwohl indischstämmig - geht dort nicht hin und kann unser Interesse nicht nachvollziehen. Die Zuwanderung bewirkt bei ihr weniger Interesse denn ein diffuses Bedrohungsgefühl. Sie bevorzugt das edel-britische West End und empfiehlt uns die angesagten Musicals.

Iren, Hugenotten, Juden und Bengalen

Nahe der Station Aldgate, einem der Orte der Bus- und U-Bahn-Attentate 2005, trennen sich die Welten: Nordwestlich wächst die boomende "City" um das Zentrum der Hochfinanz an der Liverpool Street mit neuen Glaspalästen in die Höhe, ostwärts zieht sich die Whitechapel Road endlos in Richtung East End. Der riesige Stadtteil - administrativ heißt er "Tower Hamlets" - ist seit Jahrhunderten "das" Armen- und Einwandererviertel der britischen Hauptstadt. In den Sümpfen außerhalb von Aldgate drängten sich die Menschen im Mittelalter in Elendsquartieren. In der frühen Industriegesellschaft waren es vor allem irische Migranten - die Männer Fabrik- und Hafenarbeiter, die Frauen Weberinnen -, die hier billig leben konnten. Letztlich seit 700 Jahren arbeiten hier Einwanderer in der Textilindustrie. 1590 haben französische Hugenotten in Spitalfields die Seidenweberei entwickelt. Vor allem von 1870 bis 1970 waren auch viele der allein in Stepney lebenden 120.000 Juden im Textilhandel beschäftigt. Der amerikanische Schriftsteller Jack London hüllte sich 1902 in zerlumpte Kleider, um seine Reportage über "The People of the Abyss" zu schreiben. Er fand damals "eine Steinwüste von Schmutz und Elend". Heute sind es Asiaten, die unter bei weitem nicht mehr so schwierigen Verhältnissen die lange Tradition in Produktion und Handelvon Textilien fortführen. Viele arbeiten hier aber auch heute noch zu geringen Löhnen und ohne jegliche soziale Absicherung in der Textilbranche. In Hinterhöfen und alten Lagerhallen nähen sie modische Hemden, von denen manche dann für horrende Summen in noblen Boutiquen am Cityrand verkauft werden.

Heute lebt hier die größte Community der etwa 300.000 Bengalen in Großbritannien. Kaum bekannt ist, dass Bengalen seit fast 400 Jahren in der Hauptstadt des Commonwealth leben. Zunehmend aber - wie im Film "Kick it like Beckham" zu sehen war - ziehen viele in die "besseren" Vororte. Monica Ali hat in ihrem Bestseller "Brick Lane" die Welt der Noch-Nicht-Etablierten beschrieben. Und - aus den Augen eines Mädchens, das durch eine arrangierte Ehe zuwandert - deren Integrationsprozess. Mit der "East-India-Company" kamen schon im 17. Jahrhundert die ersten indischen Migranten - Seeleute und Haushälterinnen.

Während damals Jiddisch die "lingua franca" und ein "Beigel" die ortstypische Speise waren, sind dies heute Bengalisch und Kebab mit Curry. Bei unseren Spaziergängen durch Raum und Zeit zeigen uns vier Gebäude den kontinuierlichen Wandel unterschiedlicher Einwanderergruppen. Als erstes die heutige Brick Lane Mosque: 1743 wurde das Gebäude als "Neue Kirche" von Hugenotten erbaut, zeitweilig von Methodisten genutzt, 1898 zu einer Synagoge umgewandelt, 1950 geschlossen und 1976 als Moschee wieder eröffnet. Daneben die "Christ Church School", deren Schülerschaft früher zu 95 % jüdisch, jetzt zu 95 % bengalisch-muslimisch ist. Drittens die mit drei anderen als einzige von früher 150 Synagogen im Bezirk noch genutzte "Fieldgate Street Synagoge". Sie wird nun durch den Neubau einer der größten britischen Moscheen und den Neubau des Islamischen Zentrums nebenan auf "Zwergengröße" reduziert. Die "Bangladesh Welfare Association" in der Fournier Street schließlich setzt die Arbeit einer erst hugenottischen, dann jüdischen und später pakistanischen Wohlfahrtsgesellschaft fort.

Der auswärtige Besucher kommt jedoch kaum deshalb in die Brick Lane, sondern um den Gaumen mit exotischen Süßigkeiten, Fisch, Gemüse und vor allem Kebab mit Curryreis zu kitzeln. In 50 Restaurants wird hier in der "Curry Capital" des Landes die zweitbeliebteste Speise der Briten angeboten. Aber schon wird eine neue Dynamik sichtbar: Seit 1990 ziehen - verstärkt seit der EU-Osterweiterung - Handwerker, Fachkräfte und Studenten aus Polen und Litauen, aber auch der Ukraine, Russland und Deutschland in die Wohnungen fortgezogener Bengalen. Sie suchen hier oder in Notting Hill ihr Glück. Der deutsche Journalist Ronald Reng zeigt in den Romanen "Fremdgänger" und "Mein Leben als Engländer", dass deren Integration auch nicht eben einfach ist. Neben diesem jüngsten Wandel der dominierenden Einwanderergruppen lässt sich in den zur City führenden Straßen ein weiterer Prozess beobachten: Ehemals schäbige Straßen sind bei Designern und Künstlern der "Young British Art", die hier in alten Lagerhallen ihre Ateliers eingerichtet haben, hipp geworden. Teure Galerien, Boutiquen und Cafés erobern frühere Slumquartiere. Ein Gentrifizierungsprozess hat eingesetzt und führt zu steigenden Mieten.

Im Sunday UpMarket rund um die alte Truman Brauerei an der Brick Lane, einer hugenottischen Gründung, jetzt einer der angesagtesten Ausgehorte der Stadt, lernen wir eine russischstämmige Deutsche aus Berlin kennen, die gemeinsam mit einem Freund aus Wien den Passanten "Chai" (russischen Tee mit Zimt) plus Kuchenstück für 1,50 Pfund anbieten. Viele junge Leute schlendern hier sonntags von einem Stand mit alternativer Mode, Accessoires, Kunst und Leckereien aus aller Welt zum nächsten. Es sei schwer, als Neuankömmling in London gute Jobs zu finden, vor allem, wenn das Englisch not so perfect ist, sagt sie. Aber sie wollen ihr Glück versuchen.

Mr. Ali und Azad in der "No-Go-Area"

Auch die Inhaberin der East End Library sieht die Entwicklungen mit einiger Skepsis. Sie empfiehlt ein Buch des jungen Journalisten Tarquin Hall, der hier ein Jahr verbracht und seine Eindrücke von dieser - für die meisten Londoner versteckten - Welt vor ihrer Haustür 2005 in "Salaam Brick Lane" beschrieben hat. Nach zehn Jahren journalistischer Arbeit unter anderem in Indien und Afrika war Hall nach London zurückgekommen, um sich zu vergewissern, wo er hingehört. Die heimatlichen Viertel rund um Barnes erwiesen sich jedoch als mittlerweile viel zu teuer für sein bescheidenes Einkommen. So blieb ihm für den Einstieg nur das East End. In diesem seit Jahrhunderten klassischen Zuwandererviertel im Osten der City mietete er sich mit seiner indischen Frau Anu Anand, einer BBC-Nachrichtensprecherin, ein. Wunderbar lebensnah beschreibt Hall seine erste Begegnung mit diesem Arbeiterviertel aus viktorianischen Backsteinbauten, verlassenen Lagerhäusern und frei von jeglichem Grün. Zuvor war er nie hier gewesen.

Mit dem Viertel assoziierte Hall - wie die meisten Engländer bis dato - lediglich die Geschichten von Jack the Ripper, der in den Gassen nahe der Whitechapel Road 1888 sein Unwesen trieb und ein vages Wissen um das legendäre, hier gesprochene Cockney-Englisch. Eine klassische "No-go-Area" bzw. Terra incognita für die Mittel- und Oberschicht. Man kennt aber die großen Märkte: den Petticoat Lane Market, dessen Tradition als Gebrauchtwarenmarkt 1603 von Hugenotten begründet wurde und mittlerweile auch viele Araber und Schwarzafrikaner anzieht, den Spitalfields Market, in dem seit 1681 Obst und Gemüse verkauft wird, den Brick Lane Market und seit neuestem auch besagten Sunday UpMarket nahebei. Gleich die erste Begegnung in der Brick Lane beschreibt Hall als echten Kulturschock.

Mr. Ali, der Vermieter, dem das Lederjackengeschäft im Erdgeschoss gehört, führt ihn ein. Mit 14 Jahren war er aus Bangladesh nach London gekommen. 29 Jahre ist das nun her. Ähnlich wie Hall hat Ali über die Jahre in der Fremde eine gemischte kulturelle Identität angenommen, wie man am offensichtlichsten an der Kombination seiner Kleidungsstücke - Gebetskappe und Blue Jeans - erkannte. Dass dessen Identität nicht frei von Widersprüchen war, erkennt Hall an seiner Alkoholfahne und der illegalen Textilschneiderei im Keller. Seine Vormieter waren schwule Studenten, deren Lärm die alte jüdische Frau im ersten Stock derart störte, dass sich Ali - auch wegen entsprechend negativer Passagen im Koran - gezwungen sah, die Polizei zu rufen. Die Polizisten erklärten zwar, dass das Ausleben homosexueller Neigungen in Übereinstimmung mit den königlichen Gesetzen stünde, dennoch kündigte Ali den Studenten. Vorher hatte der gläubige Muslim noch andere Begegnungen mit geradezu teuflischen Mietern in der heruntergekommenen Dachkammer erlitten, unter anderen mit einem Heroindealer mit Kontakt zu Prostituierten, einem Satanisten, einem gewalttätige Aktionen gegen die Pharmaindustrie anzettelnden Aktivisten sowie einem albanischen Paar, das noch sechs weitere Freunde aufnahm und die Miete von 100 Pfund (150 Euro) in der Woche durch Tabakschmuggel verdiente. Als die Polizei eine Razzia durchführte, warf dies ein schlechtes Bild auf Mr. Ali. Daher kam ihm die Idee, sich einen "Yuppie" als Mieter zu suchen - vielleicht aus einem der Glashochhäuser an der nahen Liverpool Street Station.

Aber die Hoffnung trügt nicht nur, was Tarquin Hall angeht. Schon in den 1960er-Jahren, als die Whitechapel Art Gallery zum landesweit wichtigsten Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst wurde, konnte man ähnliches vermuten. Zwar zogen die heute weltweit renommierten Künstler Francis Bacon, David Hockney oder Gilbert & George in das East End. Das änderte jedoch wenig am schlechten Image des Viertels. Mitte der 1990er-Jahre wiederholte sich das mit dem Boom der "Young British Art" um Rachel Whiteread und Damien Hirst, die ihre Ateliers in Lofts ehemaliger Lager- und Fabrikhallen einrichteten. Es entstand eine große Nachfrage nach diesen hippen Räumlichkeiten, die zum Teil nur noch durch Pseudo-Lofts, das heißt den Nachbau solch großflächiger Hallen, befriedigt werden konnte.

Was fehlt noch in einem Artikel über das East End? Ach ja: Der obligatorische ultimative Curry-Tipp. Wir empfehlen das Café Adda in einer Seitengasse der Brick Lane. Hier trinken bengalische Arbeiter ihren Tee. Es gibt ein Kebab mit Curry, das wirklich very spicy ist. Man muss allerdings bei Azad nachfragen, da es täglich nur ein Essen gibt, ohne dass dies auf einer Speisekarte stünde. Es schmeckt noch echt, nicht an westeuropäische Gaumen angepasst. Und noch etwas, von dem man nur hier etwas mitbekommt: Faltblätter rufen auf, sich gegen den Bau einer U-Bahn-Linie - von der neuen Bürostadt in den Docklands unter dem Viertel hindurch - in die City zu wehren. Insgesamt erscheint diese zwar sinnvoll, doch wird kein durchgehender Tunnel gebohrt, sondern es entstehen wahrscheinlich riesige Baugruben und Lkw-Trassen mit viel Lärm und Dreck, wodurch die Lebensqualität in den kommenden sechs Jahren stark beeinträchtigt würde (www.coalitionagainstdigging.org).

Eines wird bei diesen Themen und Begegnungen klar: Im East End ist nichts so konstant wie der Wandel.


Autor: Ekkehart Schmidt-Fink, isoplan

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Interkulturelle Stadtrundgänge

 

Zwei von der Stadtverwaltung des Bezirks Tower Hamlets aufbereitete kulturelle Stadtrundgänge führen entlang der Spuren früheren jüdischen und heutigen bengalischen Lebens. Als sich nach der Vertreibung der Juden im 13. Jahrhundert ab 1656 wieder Juden in London ansiedelten, bauten sie hier kontinuierlich ihre Infrastruktur auf. 90 % aller Juden der Insel lebten zwischen Spitalfields und Whitechapel. Allein im Bezirk Stepney drängten sich etwa 120.000 Juden, unter anderem Sepharden aus Portugal und Spanien. Heute stehen noch vier von den ehedem 150 Synagogen des Ghettos. Ferner existiert noch das Gebäude der ehemaligen Suppenküche für die Armen, der Gründungsort der "Heilsarmee", die 1841 gegründete "Jewish Chronicle" oder das Büro des weltweit ältesten englischsprachigen jüdischen Wochenblatts der Welt. Das Geschäftsleben hat sich jedoch reduziert auf die Beigel-Bäckerei "Rinkoffs" in der Brick Lane, der ehemaligen Hauptschlagader des jüdischen Viertels, heute die von "Banglatown", wie das Quartier seit 1999 offiziell heißt. Der Name der Brick Lane stammt aus dem 17. Jahrhundert, als insbesondere nach dem großen Feuer von 1666 hier Ziegelbrennereien arbeiteten, deren Produkte (brick = Ziegel) über die Straße in die Stadt gefahren wurden.

Die Juden wurden von den Bengalen abgelöst, wie ein zweiter Rundgang zeigt. Schon in den 1890er-Jahren gab es in der India Street ein Büro, das Kindermädchen aus Bengalen, Burma und China bei der Job- und Wohnungssuche half. Nicht zufällig steht nahebei das "East India House", das frühere Hauptquartier der "East India Company" (heute Lloyds). Mit ihren Lagerhäusern dominiert sie seit 1600 das Viertel. Im nahen Hafen wurden kostbare Waren (Gewürze, Parfüm, Seide, Elfenbein und Baumwolle), aber auch die menschliche Fracht indischer Arbeitsmigranten ausgeladen. Zu letzteren gehörten viele Tausend Seeleute, genannt "Lascars". 1801 entstand ein erstes Hotel für sie. Und es kamen Kindermädchen, Haushälterinnen und Dienerinnen, genannt "Ayahs", in Begleitung rückkehrender Kolonialfamilien. Manche wurden im Stich gelassen: Allein im Winter 1840 starben 40 "Söhne Indiens" vor Hunger und Kälte in den Straßen. 1857 erfolgte daher die Gründung des "Strangers Home" in Limehouse durch die "Gesellschaft zum Schutz asiatischer Seeleute". Ledige lebten u.a. in "Sandy`s Row", suchten Jobs im Gastgewerbe im West End oder in der Textilindustrie des East Ends. (esf)

Infos: www.towerhamlets.gov.uk./data/discover 

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Requiem auf die Londoner "Caffs"

 

Das Caff stirbt. In den letzten Jahren verschwand etwa die Hälfte der früher schätzungsweise 1000 spezifisch italienisch-britischen Lokale im Lande. In der Hauptstadt soll es noch etwa 100 geben. Edwin Heathcote hat mit "London Caffs" ein Buch über diese Refugien sozialen Lebens geschrieben, das sich als Hommage und fast schon Nachruf versteht. Was aber ist ein "Caff"? Keines dieser Lokale führt den Begriff im Namen, sie heißen "Beppe`s", "Alpino", "Mama`s", "Regency Café" oder "The Sheperdess". Um das Besondere zu verstehen, muss man sich dem Phänomen in einer Kombination unterschiedlicher Blickwinkel nähern.

Soziologisch sind sie, erläutert Heathcote, ein wichtiger Teil des öffentlichen Raums, der Stadt- und Sozialgeschichte. Kulinarisch von Bedeutung ist, dass mit ihnen der Ausschank von Kaffee Einzug in die britische Gastronomie hielt. Kaffee, oder was man im Land des Five o`Clock Tea dafür hielt, gab es vorher fast nirgends zu trinken.

Die gewisse, ganz eigene Ästhetik der Caffs lässt sich nur schwer beschreiben. Daher bietet das 168-seitige Bildbändchen im Format 12 x 15 cm vor allem Fotos. Die meist einfache Einrichtung lässt an eine merkwürdige Mischung aus Altenheim und Trattoria denken. Am Interieur hat sich seit 30 - 40 Jahren selten etwas geändert. Der deutsche Betrachter mag sich am ehesten an die Frankfurter "Trinkhallen" oder die Kioske und Imbissstuben des Ruhrgebiets erinnert fühlen. Optisch dominiert das Gewöhnliche.

Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte: Im Caff haben sich italienische Einwanderer seit Anfang der 1950er-Jahre an die vergleichsweise primitiv anmutende britische Essenskultur (Chips oder Eier und Baked Beans) angepasst und Institutionen geschaffen, die bald zu unentbehrlichen Teilen der Straßen, Viertel und der Gesamtstadt wurden. Sie waren leicht zugänglich, weit verbreitet, billig und ruhig. Es entstand Londons einmalige Kaffee-Kultur für working class people und die Nachbarschaft. Im Unterschied zu den Pubs sind Caffs nur tagsüber geöffnet.

Die Einwanderer hatten eine Marktnische entdeckt: die Mischung zwischen (italienischem) Café und einer Art Schnellimbiss mit englischer und italienischer Küche. Zugleich bieten sie dem Besucher eine gewisse Geborgenheit, zwar vielleicht nicht ganz so heimelig wie das eigene Wohnzimmer, aber immerhin nicht so zweckmäßig wie eine Betriebskantine.

Heute sind die Rudimente einer Zeit, als es nur hier tagsüber diese gewisse Nestwärme gab (die man in Deutschland aus altmodischen Kaffee-und-Kuchen-Kaffeehäusern oder Eiscafés kennt) durch die nationale und internationale Konkurrenz großer Ketten stark gefährdet. "Starbucks" und andere bieten übergroße Kaffeeportionen im Pappbecher zu überzogenen Preisen, oder Teebeuteltee, der mit der britischen Teekultur kaum noch etwas zu tun hat -(eine britische Kaffeekultur gab es nie.

Am Westrand des East End in Citynähe besuchen wir "Rosa`s Café" und das "Vernasca", im Viertel Bethnal Green das "L Rodi" und das "E Pellici". Wir sind nicht die einzigen, die ihrem maroden Charme und der sie umwehenden Wehmut erliegen. Die Caffs werden wieder entdeckt. "Hier gibt es noch das komplette fry up-Frühstück, den großen Teller mit Frittiertem, der jeden Kater oder Weltschmerz verjagt", schrieb Henning Hoff in der ZEIT ("Alter Kaffee", ZEIT Nr. 19, 4. Mai 2005) über das "E Pellici". Es ist mit seiner Ästhetik aus Holzvertäfelungen im Art Deco Stil jedoch eher so etwas wie das "Savoy" der Caff-Welt. Auf der Gästeliste stehen Robbie Williams und Liam Gallagher von Oasis. Hier hat der vielleicht einsetzende Kult um die Caffs schon begonnen. Der beste Espresso in der Stadt, serviert vom 80-jährigen Nevio Pellici, der über dem Caff geboren wurde. Das bei der Wiley-Academy 2004 erschienene Buch (ISBN: 0470094389) kostet 9,99 Pfund. Uns war dies nicht nur als Hommage, sondern auch als Reiseführer eine gute Investition: Nachdem wir einmal Feuer gefangen hatten, versuchten wir, jede Mittagspause unseres London-Aufenthalts in einem anderen Caff zu verbringen. (esf)

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"Krauts" in London

 

Neben Bengalen, Arabern, Iranern und Türken leben natürlich auch Deutsche in London. Die bekanntesten sind wohl Claudia Schiffer, Jens Lehmann und Herbert Grönemeyer. Seit 2005 zählt Deutschland sogar zu den zehn wichtigsten Herkunftsländern der Zuwanderung nach Großbritannien. Es kommen alle Berufsgruppen, von Arbeitern über Ingenieure und Ärzte bis hin zu Hochschullehrern und Investmentbankern. Seit 2001 können sie Vollkornbrot, Berliner und frischen Apfelkuchen im Viertel Richmond beim "Backhaus", einer deutschen Bäckerei, bekommen. Nach Angaben des 1994 aus Leipzig zugezogenen Bäckerpaares sind sie die einzigen unter den deutschen Bäckereien in England, die Originalrezepte verwenden. Die Marktnische erkannten sie während der vorherigen Beschäftigung in einer englischen Bäckerei. "Kraut & Rose" heißt ein anderer deutscher Laden, der 2005 im Süden der Stadt eröffnet wurde. Hinter der Ladentheke steht ein Bielefelder Florist, der offenbar Humor hat: Ist doch "Kraut" ein nicht eben freundlicher Spitzname für Deutsche. Angesichts des Vorurteils vom humorlosen Deutschen kommt der Name gut an. Beide Geschäfte setzen auf Qualität, beide haben deutsche, aber auch internationale Kundschaft. (esf)

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Rassismus

 

Auf die Terroranschläge von 2005 folgten auch in London einzelne rassistische Übergriffe auf Muslime. Ein wirklich massives Auftreten eines fremdenfeindlichen Mobs ist erstmals für 1381 dokumentiert - damals gegen flämische Weber gerichtet. An rassistische Einschüchterungsversuche der jüngeren Vergangenheit erinnern im East End zwei nahe beieinander liegende Orte: Da ist zum einen der "Kampf an der Cable Street" von 1936, als die Polizei und 100.000 Gegendemonstranten 2.000 faschistische Schläger aufhielten sowie zum anderen die rassistischen Ereignissen in der Brick Lane 1978, in deren Verlauf der junge bengalische Textilarbeiter Altab Ali starb. Ihm wurde 1998 im früheren Whitechapel Kirchhof ein Denkmal errichtet. Ein ganz anderes Mahnmal stellt der Notting Hill Karneval dar. Er entstand 1958 in Reaktion auf rassistische Unruhen und ist mit 1,5 Millionen Besuchern heute die größte und traditionsreichste Straßenparade Europas. (esf)

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Literaturtipps

In den vergangenen Jahren ist ein Dutzend sehr lesenswerter London-Bücher erschienen, von denen es einige auch auf deutsche Bestsellerlisten geschafft haben. Gemeinsam haben die Romane von Hanif Kureishi, Zadie Smith, Monica Ali und Ronald Reng vor allem die sehr realitätsnahe Schilderung des Lebens in den Zuwanderervierteln dieser wohl kosmopolitischsten Weltstadt. Mit "Zähne zeigen" oder "Brick Lane" vorbereitet, lässt sich London auf den Spuren dieser Bücher ganz neu entdecken - spannende Subkulturen fern von St. Pauls Cathedral, Westminster Abbey oder Millenium Wheel. (esf)

  • Monica Ali: Brick Lane, Droemer, München 2005

  • Cox, Jane: London`s East End - Life and Traditions, Weidenfeld and Nicolas, London 1994

  • Tarquin Hall: Salaam Brick Lane. A year in the New East End, John Murray, London 2005

  • Edwin Heathcote: London Caffs, Wiley, London 2004

  • Hanif Kureishi: Das schwarze Album, Kindler, München 1995

  • Hanif Kureishi: Der Buddha aus der Vorstadt, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2005

  • Lamarche, Daniele: Bengalis in East London - a comunity in the making for 500 years, Shadinata Trust, London 2003

  • Jenny Linford: Food Lovers` London, Metro Publications 2005

  • Ronald Reng: Mein Leben als Engländer, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003

  • Reng, Ronald: Gebrauchsanweisung für London, Piper, München 2004

  • Ronald Reng: Fremdgänger, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005

  • Zadie Smith: Zähne zeigen, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main/ Wien/ Zürich, 2000

  • Zadie Smith: Von der Schönheit, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006

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