Ausländer in Deutschland 2/2000, 16.Jg., 30. Juni 2000

Schwerpunkt:
lateinamerikaner in deutschland

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Lateinamerika-Projekte und -Initiativen, Deutsch-Brasilianische Migrationsgeschichte, Portraits, Kultur


El Dorado und zurück

Wie viele Lateinamerikaner leben in Deutschland? Bei keinem Stadtfest, keiner Multikultifete fehlt ihr fröhlicher Tropencocktail-Stand. Hat nicht auch jede Kleinstadt eine Latinokneipe oder mindestens Salsadisko am Wochenende? Andenponchos und El Condor Pasa-Folklore in deutschen Fußgängerzonen wirken auch schon lange nicht mehr fremd, sondern ob der vielen Auftritte fast ein wenig überholt. In der Bundesliga schießen Latinos, wenn nicht die meisten, so doch die schönsten Tore. Und schon über Jahrzehnte haben sie uns vom Tango über Cha Cha Cha zu Lambada und Salsa gelockt, und gerade wieder zurück zum Tango.

Kennen wir nicht auch persönlich mindestens einen oder eine schon aus den 70er Jahren, aus der Zeit der Militärdiktaturen, als so manche Latinos nach Deutschland geflüchtet sind? Und was wohl aus der alten Nicaragua-Solidaritätsgruppe geworden sein mag, mit der man damals beinahe zur revolutionsfördernden Kaffeeernte gereist wäre...

Etwa 73.000 Lateinamerikaner leben in Deutschland, das sind weniger als 0,1 % der Wohnbevölkerung. Kann das denn sein? Trotz ihrer kleinen Gesamtzahl sind sie so präsent wie kaum eine andere Gruppe von Migranten.

Aber was heißt eigentlich Gruppe? "man nennt mich ein lateinamerico, dabei bin ich ein brasilo," schreibt Zé do Rock in Deutschland und erinnert daran, dass da ja zum Beispiel eine Differenz in der Sprache besteht (vgl. s.20). Ismael Ivo, ebenfalls in Brasilien geboren, sagt: "Ich fühle mich als Berliner." Und der Chilene Otto Bischof ist "erst in Deutschland Lateinamerikaner geworden". Und "Weltbürger" sind sie alle.

Aber wo bleibt dabei das spezifisch Lateinamerikanische? Eine kleine Umfrage unter denen, die es wissen müssen, bringt folgendes zu Tage: "Indianer... zumindest fragt man mich oft nach dem Urwald." - "Ach, und ich werde bedauert: Dieser Analphabetismus all überall! Schön, dass ich in eine deutsche Uni kommen durfte..." - "Wir sind ja bestimmt auch weggegangen, weil um einen herum scheinbar immerzu Straßenkinder umgebracht werden..." - "Aber Kriminalität hin, Armut her, egal, wir tanzen dazu und haben gute Laune. Sozusagen trotz alledem." Und wie zum Beweis amüsieren sich meine Gesprächspartner über diese Klischees, die doch offensichtlich nicht zusammen passen.

Es ist allerdings nicht einfach, der lateinamerikanischen Vielfalt gerecht zu werden.

El Dorado

Verbindendes Element ist am ehesten wohl die Geschichte Lateinamerikas, genauer gesagt: die der letzten 500 Jahre, seit Beginn des Kolonialismus. Und dieser wurzelte in Machtstreben und der Gier nach Gold, Gewürzen, Sklaven und Ländereien, die die europäischen Mächte in der Mitte des vergangenen Jahrtausends umtrieben. Mit entsprechenden Verheißungen hatte Christoph Kolumbus die Königin Isabel von Castilien überzeugt, seine Entdeckungsreise für einen neuen Schiffsweg nach Indien zu finanzieren, auf dem er 1492 - bekanntlich aus Versehen - stattdessen Amerika "fand". Schon 1494 teilten Spanier und Portugiesen die "Neue Welt" - 22.360.000 Quadratkilometer - im Vertrag von Tordesillas selbstbewusst unter sich auf. Übrigens schon bevor der Portugiese Pedro Alvares Cabral im Jahre 1500 erstmals das heutige Brasilien betrat. Allein dieses Land ist 35 mal so groß wie Deutschland, fast ein Kontinent für sich (8.547.000 qkm).

Eine Vielzahl von Völkern mit unterschiedlichsten Kulturen und Gesellschaftsformen wurde da "entdeckt", darunter die imperialen Großreiche der Mayas, Azteken und Inkas ebenso wie kleinere Nomadenvölker, und sie sprachen allein über 1000 verschiedene Sprachen. Man ordnete sie dem pauschalierenden Begriff "Indianer" zu. Und den galt es zu zähmen, zu christianisieren oder später dann zu "entwickeln". Schon früh benutzte man ihn auch für philosophische Projektionen. Michel de Montaigne malte im 16. Jahrhundert, nach Kontakten mit "Indios" aus dem heutigen Brasilien, in seinem Klassiker "Die Kannibalen" das Bild vom kraftvollen idyllischen Leben der Wilden im Urwald als Gegenbild zum Übel der Zivilisation. Es beeinflusste später Spinoza und Locke und wirkte nicht zuletzt im 18. Jahrhundert dann bei den Revolutionären von 1789 nach.

Der Entwurf des "edlen Wilden" war allerdings nur ein Kompromiss Wohlwollender, mit dem den nichtchristlichen Ureinwohnern ein positiver Wert zugestanden wurde, die man nicht als Homo Sapiens auffassen mochte. Außerdem gab es andere Erfahrungen und Auffassungen. So hatte der Hesse Hans Staden von zwei Lateinamerikareisen zwischen 1548 und 1555 Notizen mitgebracht für eine "Wahrhaftig Historia und Beschreybung eyner Landtschafft der Wilden/Nacketen/Grimmigen Menschenfresser Leuthen...", die als realistisch geltendes Abenteuerbuch mehrere Jugendgenerationen beeinflussten.

Parallel dazu verlief die Geschichte einer nie da gewesenen materiellen Ausplünderung, Vernichtung von Kulturen und vor allem Zerstörung von Menschenleben. Schon 1552 klagte der Dominikanermönch Fray Bartolomé de las Casas an, dass "12 Millionen Männer Frauen und Kinder auf grausamste Weise gequält, getötet" worden waren. Zu den Ureinwohnern kamen unzählige Opfer unter den Schwarzen hinzu, die ab 1505 als Sklaven aus Westafrika in die Karibik, dann in andere Regionen, verschleppt und brutal ausgebeutet wurden, - und zum christlichen Glauben "bekehrt", ebenso wie die Indios, ebenso mit teilweise brachialer Gewalt. Heute geht man von 50 Millionen getöteten Menschen aus.

Deutsche in Lateinamerika

Von Beginn an waren Deutsche beteiligt an der Suche nach El Dorado, dem sagenumwobenen "Goldenen" oder "Vergoldeten" - dem Paradies der Edelmetalle auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Neben einzelnen Mitreisenden segelten Anfang des 16. Jahrhunderts ganze Schiffe mit, die von den Familien der Welser und anderer oberdeutscher Kaufleute finanziert waren. Wenn auch El Dorado nicht gefunden wurde, so gelangten doch über die Schiffe der Kolonisatoren und Händler zahlreiche Reichtümer zu uns: Neben geraubten Edelmetallen, Hölzern und Bodenschätzen waren es nicht zuletzt eine große Anzahl neuer Lebensmittel wie Mais, Tomaten, Paprika. Und schließlich auch die heute so "deutsch" erscheinende Kartoffel.

Anfang des 18. Jahrhunderts begann die Macht Spaniens zu wanken. In Aufständen und Kriegen erkämpften sich die Länder der Neuen Welt nach und nach die Unabhängigkeit: 20 Festlandstaaten und 23 Inselstaaten in der Karibik. Frühzeitig begann eine aktive Einwanderungspolitik: gezielte Anwerbung europäischer, darunter auch deutscher, schweizerischer und österreichischer Migranten. Nach Mexiko und Venezuela holte Spanien im 16. und 17. Jahrhundert Bergleute aus dem Erzgebirge und aus Böhmen für die Silberminen in Mexiko. Anfang des 18. Jahrhunderts setzte eine umfangreiche Anwerbung Deutscher für die Einwanderung nach Südbrasilien ein. Versprechungen von fruchtbarem Land, Starthilfen und Wohlstand kamen gut an in der von Hungersnöten geplagten alten Welt; Familien und halbe Dörfer machten sich auf den Weg. In den heutigen Bundesstaaten Santa Catarina, Rio Grande Do Sul und Paraná erinnern Städte- und Ortsnamen an die Herkunft oder die Gründer der frühen Siedlungen: Novo Hamburgo, Friburgo, Schroeder. International bekannt ist heute die 1848 gegründete Stadt Blumenau mit ihren Schwarzwaldhäuschen und dem, so die Eigenwerbung, "zweitgrößten Oktoberfest der Welt" (gleichzeitig das "zweitgrößte Fest Brasiliens" nach dem Karneval). Auch in Südchile, Paraguay und Argentinien gründeten Deutsche Kolonien, und sie und ihre Nachkommen pflegten die mitgebrachte Kultur und Sprache nicht zuletzt in regem Vereinsleben. "Einige sprechen bis heute tatsächlich unseren Dialekt", berichtet Inge Hofmann, Mitglied der Folkloregruppe Rheinböllen aus dem Hunsrück. Die Rheinböllener kennen einige Städte von Gastauftritten in Südbrasilien aus eigener Anschauung, im Jahr 2000 reisen sie auf Einladung erneut nach Brasilien und Chile.

Auch in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts suchte man Einwanderer zu gewinnen, nicht zuletzt in Deutschland. Spezielle Siedlungsgesellschaften sollten den neuen Ankömmlingen bei der Ansiedlung helfen. Brasilien entsandte in den 20er Jahren einen Regierungsbeauftragten nach Berlin, um dort mit Informationsschriften und Diavorträgen um Einwanderer zu werben. In der Einwanderungskontrollstation Ilha das Flores wurden sie dann untersucht und versorgt, bis ihnen Land zugewiesen wurde.

Deutsche bzw. Deutschstämmige haben noch aus jenen Pionierzeiten einen guten Ruf für ihre Aufbauleistungen. Wenig bekannt ist, dass Siedler auch scheiterten. Die Migrationsforscherin Mariza Miranda befragt derzeit in Mato Grosso do Sul, Brasilien, die Nachfahren deutscher Einwanderer. Sie stellt fest, dass viele auch enttäuschende Erfahrungen machten, dass es wohl auch Depression und Selbstmord gab, "aber darüber reden sie nicht gern". Schuld waren Klima, Krankheiten, zu hohe Erwartungen, Heimweh.

Zuflucht für Verfolgte und ihre Verfolger

Neben der frühen Migration aus wirtschaftlichen Gründen fanden Deutsche auch immer wieder Zuflucht als politisch Andersdenkende. Nachweislich geschah dies bereits mit Kämpfern der Revolution von 1848. Im 20. Jahrhundert dann bot der Kontinent rund 100.000 Flüchtlingen aus Hitlerdeutschland Zuflucht. Sie lebten insbesondere in Argentinien (45.000), Brasilien (25.000), Chile (12.000), Uruguay und Mexiko. Dort entwickelten sie antifaschistische Exilkultur mit u.a. über 50 deutschsprachigen Publikationen, die teilweise auch in Europa verbreitet waren. (Mariza Miranda bat uns, nach Zeitzeugen in Deutschland suchen zu helfen. Insbesondere sucht sie Informationen über die "Kolonisierungsgesellschaft H. Hacker" aus Hamburg. Mehr zu Mirandas Untersuchung in Südbrasilien)

Den Flüchtlingen aus Nazideutschland folgten später allerdings auch aus Deutschland flüchtende Nazis, darunter auch bekannte Namen wie Klaus Barbie, der ab 1951 in Bolivien lebte. Der Folterer und Massenmörder des Naziregimes arbeitete nun für mehrere bolivianische Diktatoren: Er war Mitarbeiter des bolivianischen Geheimdienstes, führte die Folter als Verhörmethode ein und befehligte persönlich politische Massaker. Seit 1961 kannte die deutsche Justiz seinen Aufenthaltsort. 1983 wurde Barbie nach Frankreich abgeschoben.

Nicht vergessen werden sollten auch andere unrühmliche Einflüsse Deutschstämmiger. Namen wie General Alfredo Stroessner (Diktator in Paraguay ab 1954), General Hugo Banzer (Putsch in Bolivien 1971), General Ernesto Geisel (ab 1973, nach dem Putsch in Brasilien von 1968) stehen für diktatorische Gewalt, die im 20. Jahrhundert viele Leben gekostet und auch Flüchtlinge nach Deutschland vertrieben hat. Oder Colonia Dignidad, die 1961 von Deutschen gegründete Folterkolonie des chilenischen Militärregimes.

Inge Hofmann kann über die heutige Situation einiges berichten. Bei Gastauftritten in südlichen, deutschstämmig geprägten Regionen hat sie beobachtet: "Es kommt immer wieder vor, dass ehemals Verfolgte und Verfolger gleichzeitig im Festzelt sitzen. Sie feinden sich nicht offen an, aber man spürt, wie es unter der Oberfläche brodelt." Inge Hofmann beherbergt ab und an im heimischen Rheinböllen Gäste auf Gegenbesuch aus Lateinamerika. Jüngere Deutsch-Brasilianer der zweiten Generation nutzen dann schon mal die Gelegenheit zur Nachfrage: "Wie war das eigentlich damals, mit Hitler?" Politische Ahnungslosigkeit, in merkwürdigem Kontrast zu den fließenden deutschen Sprachkenntnissen, die diese jungen Leute mitbringen.

Lateinamerikaner in Deutschland

Bis zu den Unabhängigkeitsbewegungen war Deutschland kein Migrationsziel für Lateinamerikaner, die iberischen Mutterländer und ihre Kolonien waren bis dahin ein recht geschlossenes System. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts dieses System aufbrach, orientierte man sich eher nach Frankreich. Nach Deutschland kam man nur zur militärischen Ausbildung, insbesondere waren es Chilenen.

Im 20. Jahrhundert erlebte der lateinamerikanische Kontinent eine Serie von Krisen ökonomischer und politischer Natur. Diese hatten enorme Wanderungsströme zur Folge.

Gewalt, meist innerstaatliche Gewalt, darunter eine ganze Serie von Militärputschen, prägten die 60er und 70er Jahre. Zehntausende gingen in dieser Zeit ins Exil, nach Möglichkeit zunächst ins Nachbarland, nach USA, Spanien, Portugal, Frankreich. Oder schließlich auch nach Deutschland. 1973, als in Chile Präsident Allende gestürzt wurde, begann eine der größten Wanderungen dieser Art, denn dort hatten auch Flüchtlinge aus Brasilien, Bolivien und Argentinien gelebt. Chilenen wurden von der Bevölkerung in Deutschland wohlwollend aufgenommen, viele Intellektuelle konnten sich als Dozenten betätigen, doch von den ca. 4.000 Flüchtlingen, die 1974 aus Chile kamen, wurden nur 1.500 als Flüchtlinge anerkannt. Die Gesamtzahl der Chilenen stieg dennoch bis Mitte der 90erJahre auf ca. 6.300 und ging dann leicht zurück. Auch insgesamt ist die Zahl der Lateinamerikaner in Deutschland gestiegen. Wie aus Chile kamen Flüchtlinge auch aus anderen Militärdiktaturen nach Deutschland. Viele von ihnen kehrten in den 80er Jahren mit der Redemokratisierung ihrer Länder wieder in die Heimat zurück. Ausnahmen blieben Peru (autoritäres Regime, Staatsstreich von Präsident Fujimori 1992) und Kolumbien, wo bis heute Regierungs- und Guerillatruppen gegeneinander kämpfen. Gründe zur Flucht gibt es nach wie vor auch in Paraguay und Guatemala wegen politischer Instabilität, Unruhen und Gewalt.

Armut, zumindest Existenzunsicherheit angesichts ökonomischer Probleme, ist nach wie vor Wanderungsgrund, ihr Ende nicht absehbar. Ca. 200 Jahre politische Unabhängigkeit bedeuten noch lange keine parallele Entwicklung zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit.

Auf dem Weltmarkt am kürzeren Hebel

Bis heute erfolgt über den Weltmarkt ein ungleicher Tausch von Waren und Werten zwischen reicheren und ärmeren Volkswirtschaften: Seit Jahrzehnten ist Lateinamerika Netto-Exporteur von Lebensmitteln; insbesondere Fleisch, Getreide und Ölfrüchte aus Argentinien und Brasilien sowie Bananen- und Kaffeeexporte aus Mittel- und Südamerika. Daneben dominiert die Rohstoffgewinnung in der Mehrzahl der Volkswirtschaften (Ausnahme zum Beispiel Mexiko, wo Industriegüterproduktion gleichwertig ist). Allerdings sind die Außenhandelsbilanzen negativ, denn die Preise für viele lateinamerikanische Waren auf dem Weltmarkt sind niedrig (und seit 1998 wieder einmal gefallen). Zwar wächst das Pro-Kopf-Einkommen (wenn auch etwas gebremst: von 5,2 % (1997) auf 2,3 % (1998)). Doch dieses Wachstum kommt nicht der breiten Bevölkerung zugute. So sind die Güter und vor allem das Land, auf dem sie produziert werden, nach wie vor höchst ungleich verteilt (Beispiel Brasilien: Ein Prozent der Bevölkerung besitzt die Hälfte des Landes).

Die Ärmsten der Armen allerdings schaffen nicht den Weg ins entfernte Deutschland, sie wandern notgedrungen innerhalb des lateinamerikanischen Kontinents (dort bevorzugt nach Argentinien) bzw. nach Nordamerika. Immerhin erklärt sich hier die Attraktivität eines manchen Aleman/Alamao für Frauen aus krisen- und inflationsgeschädigten Mittelschichten, die im Zweifel auch dem Ruf internationaler Partnervermittlungsagenturen folgen.

Denn darauf ist der erhöhte bzw. wachsende Frauenanteil unter Lateinamerikanern in Deutschland (vor allem aus der Dominikanischen Republik, Brasilien, Mexiko, Peru) wesentlich zurückzuführen.

Werktätige aus dem sozialistischen Bruderland

In der ehemaligen DDR lebten 1989 ca. 10.000 Lateinamerikaner (5 % von 191.200 Ausländern insgesamt): 8.000 Kubaner, außerdem etwa 500 Flüchtlinge aus Chile, dazu etwa 400 Nicaraguaner.

Gemäß der ideologischen Leitlinien der Außenpolitik stammten Ausländer in der DDR überwiegend aus sozialistischen Bruderländern. 1960 erkannte Kuba als erstes lateinamerikanisches Land die DDR als zweiten deutschen Staat an. Im Laufe der Jahre lebten insgesamt etwa 30.000 Kubaner als Arbeitsmigranten in der DDR; Grundlage war ein Abkommen von 1978 über die "zeitweilige Beschäftigung kubanischer Werktätiger bei gleichzeitiger Qualifizierung im Prozess produktiver Arbeit". Mit dem Ende der DDR (und dem Auslaufen zahlreicher Aufenthaltstitel) gingen die meisten Lateinamerikaner in die Herkunftsstaaten zurück, darunter auch die meisten der chilenischen Flüchtlinge. Etwa 3.000 Kubaner blieben; etwa 6.300 sind es heute in Deutschland insgesamt.

Integration in Deutschland

Schon im Verlauf der nach der Re-Demokratisierung in den 80er Jahren kehrte der größte Teil der Exil-Latinos wieder in die Herkunftsländer zurück.

Europa, geschweige denn Deutschland, ist auch heute kein zentrales Migrationsziel für Lateinamerikaner. Die meisten Wanderungen finden weiterhin auf dem Heimat-Kontinent selbst statt, gefolgt von Wanderungen nach USA. Die Latinos in Europa bevorzugen nach wie vor die iberische Halbinsel (Anteil an den Ausländern in Portugal: 14,9 %, in Spanien: 11,6 %); in Deutschland ist der Anteil vergleichsweise gering (0,9 %). (vgl. AiD-Karte)

Migration nach Deutschland, von Flucht einmal abgesehen, ist nur unter wenigen Voraussetzungen möglich: Familienzusammenführung, Studium, Arbeit in wenigen höchstspezialisierten Bereichen. Die Gesamtzahl steigt gleichwohl weiterhin: 1989 lebten ca. 34.000 Lateinamerikaner in Deutschland (davon 33.000 West), 1996 knapp 70.000, 1999 waren es 77.000 Personen. Brasilianer sind mit knapp 21.000 zahlenmäßig die größte Gruppe, gefolgt von Peruanern (7.500), Kolumbianern (über 7.300), Kubanern (knapp 6.300).

Studierende aus Lateinamerika: Sprach- und Kulturwissenschaften liegen vorn.

Im Wintersemester 1997/98 studierten 158.000 ausländische Studenten im früheren Bundesgebiet West, darunter 3.910 Lateinamerikaner (2,5 %). Die mehrheitlich bevorzugte Fächergruppe sind die Sprach- und Kulturwissenschaften mit 31,4 %, wobei die Brasilianer mit 36,3 % diese am deutlichsten bevorzugen, dicht gefolgt von Chilenen und Argentiniern mit fast 35 %. Im Durchschnitt aller ausländischen Studierenden treffen nur 25,0 % diese Wahl. Einen anderen Schwerpunkt setzen Peruaner: Hier liegt die Fächergruppe Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften vorne, in der knapp jeder dritte studiert, während sich alle anderen Lateinamerikaner bzw. ausländische Studierende generell hierin nur in jedem vierten Fall qualifizieren. Auffällig ist auch die Bevorzugung der Ingenieurwissenschaften durch Bolivianer (30,0 %) und Venezolanern (26,6 %), die dies deutlich häufiger als der lateinamerikanische Durchschnitt (16,0 %) studieren. Agrar-, Forst- und Ernährungswissenschaften, ein generell wenig gewählter Studienkomplex, findet unter den lateinamerikanischen Studenten mit 3,7% immerhin doppelt so viele Interessenten wie unter den ausländischen Studierenden insgesamt (Durchschnitt: 1,7%). 

Quelle: Statist. Bundesamt, eigene Berechnungen

 

Augenfällig ist zum einen der große Anteil an Lateinamerikanern mit höheren Bildungsabschlüssen bzw. Studenten. Letztere sind überdurchschnittlich stark engagiert in Sprach- und Kulturwissenschaften (vgl. Box links). Augenfällig ist auch das besondere kulturelle Engagement von Lateinamerikanern in Deutschland. Es bewegt sich im breiten Spektrum zwischen kleinen Initiativen wie Talide e.V., der sich mit bescheidensten Mitteln in der lateinamerikanischen "Diaspora" des Ostens behauptet, und großen, alteingesessenen Organisationen wie dem Ibero-Amerikanischen Institut, heute Teil der Berliner Stiftung Preußischer Kulturbesitz, hervorgegangen aus einer 80.000 Bände umfassenden Bibliothek des argentinischen Gelehrten Ernesto Quesada und weiteren Sammlungen. In einigen Fällen sind binationale Institutionen entstanden wie der große Circulo Argentino oder kleinste Initiativen wie Raizes do Brasil, die die ganze Vielfalt der Kultur eines Landes zeigen wollen. In anderen Fällen geht es bunt und "multikulti" zu, wie bei Zapata in Stuttgart. Und wie bunt wird es erst, wenn es ums Tanzen geht: Dann ist eh niemand mehr seiner Herkunftskultur zuzuordnen, und die mittanzenden deutschen - oder türkischen oder italienischen - Freizeitlatinos sehen oft am argentinischsten, brasilianischsten, kubanischsten von allen aus.

Vorbei allerdings sind die Zeiten, da Lateinamerikaner - oder Ereignisse in Lateinamerika - in Deutschland politische Grundsatzdebatten auslösten. Zeiten, als an Soziologiefakultäten "Krise in Lateinamerika Teil I bis III" gelehrt und dabei das "revolutionäre Subjekt" gesucht wurde. Längst verstaubt das Che-Guevara-Emblem unter alten Liebesbriefen. Wenn Kuba derzeit in Deutschland eine Art Revival erlebt, so allein wegen der Salsa-Rhythmen, und bei den nicht mehr ganz Jungen wegen "Buena Vista Social Club".

Lateinamerika ist Lifestyle in Deutschland. Andererseits: Wie integriert sind Lateinamerikaner in Deutschland? Am schwersten ist es heute wohl, neben der kleinen Gruppe von Flüchtlingen, wahrscheinlich für die eingeheirateten Partner, und das sind innerhalb einer neuen Einwanderungswelle überwiegend Frauen. Zwar können neu Eingereiste am Deutschunterricht teilnehmen (gefördert vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung); doch dies setzt voraus, der Partner leistet Hilfestellung. Soziale Projekte und Beratungsstellen können die Anzahl der Betroffenen nicht statistisch genau angeben, doch ihre Berichte von vielen Einzelfällen der verstörten, isolierten, enttäuschten jungen Frauen, die schließlich den Weg in die Beratung finden, sollten ernst genommen werden.

Lateinamerikanische Kinder - oder solche aus binationalen Partnerschaften - können am muttersprachlichen Spanisch- bzw. Portugiesischunterricht teilnehmen, allerdings gibt es große sprachliche Differenzen zwischen der jeweiligen europäischen und lateinamerikanischen Version, so dass Eltern nicht selten davon Abstand nehmen. Auch hier ist die sozial-integrative Wirkung all der großen und kleinen Initiativen und Institutionen unverzichtbar. Und wenn der Zugang über den klassischen Weg des Multikulti-Grill-Tanz-Kulturfests erfolgt - umso besser.

Literatur:

  • Natacha Garay: Lateinamerikaner in Berlin. Entdeckungen in Vergangenheit und Gegenwart. Reihe Miteinander leben in Berlin, Herausgeberin: Die Ausländerbeauftragte des Senats, Berlin 1995. Kontakt/Bestellungen:

  • Matices, Zeitschrift zu Lateinamerika, Spanien und Portugal: Ibero-Lateinaerikaner in Deutschland. Nr. 16, 1987/88

  • Schmalz-Jacobsen, Cornelia und Georg Hansen (Hg.). Kleines Lexikon der ethnischen Minderheiten in Deutschland, München 1997

  • Zeitschrift für KulturAustausch 2/99: Lateinamerika - 200 Jahre nach Humboldt.


Autorin: Marie-Luise Gries, isoplan

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Tanz als universelle Sprache

Ismael Ivo, der ausdrucksstarke Tänzer auf unserem Titelfoto, lebt seit 1985 als "Lateinamerikaner in Deutschland". Der gebürtige Brasilianer ist ein internationaler Superstar des modernen Tanzes und der Choreografie. Ivos Karriere begann mit mehreren Auszeichnungen als bester Solotänzer ab 1979 in seiner Heimatstadt Sao Paulo. Es folgten eine Einladung nach New York ans Alvin Ailey Dance Center, ab 1985 Arbeiten in Berlin, mehr als 10 Jahre lang die künstlerische Leitung der Internationalen Tanzwochen in Wien, künstlerische Zusammenarbeit mit George Tabori in Leipzig. Als erster Brasilianer und als erster Schwarzer wurde Ivo 1996 Leiter des Tanztheaters und Chefchoreograf am Deutschen Nationaltheater Weimar. Immer bleibt er selbst auch als Tänzer präsent: Zu seinen großen Erfolgen in den 90er Jahren gehören "Francis Bacon" und "Othello", mit denen er auf den großen Tanzbühnen der Welt zu sehen war. Auch die jüngeren Stücke "Mephisto" und "Dionysos" veranlassen Kritiker zu begeisterten Beschreibungen von Ivos Kunst: "leidenschaftlich, intensiv, energiegeladen, furios".

AiD: Bedingt durch Ihren Beruf haben Sie in mehreren Ländern gelebt und gearbeitet. Haben Sie auch eine Heimat?

Ismael Ivo: Ich kann nicht mehr sagen, dass ich mich als typischer Brasilianer fühle. Auch nicht als Deutscher, aber sicherlich als Berliner. Berlin war für mich in den letzten 15 Jahren ein Ort um zu leben, zu lieben und zu arbeiten. Ein Ort voller Energie, der mir Kraft und Inspiration gab.

Gibt es in Ihrer Arbeit so etwas wie "das brasilianische Element"?

"Die Wurzeln meiner brasilianischen Erziehung haben meine Art zu sehen, zu fühlen und die Welt zu verstehen bestimmt. Aber in Wirklichkeit habe ich mich schon immer als Weltbürger gefühlt. Es gibt Elemente in meiner Choreografie, die auf meine persönlichen Erinnerungen verweisen. Dennoch ist das Vokabular des Tanzes eine universelle Sprache.

Sie sind in aller Welt Menschen begegnet, die Sie vorher nicht kannten. Was gefällt Ihnen, wenn Sie Fremde kennen lernen?

"Ich bin glücklich, überrascht, neugierig, offen, aufmerksam. Und ich lerne noch immer jeden Tag aus unerwarteten Begegnungen."


Autorin: Marie-Luise Gries, isoplan

Titelfoto: C. Brachwitz

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