Ausländer in Deutschland 1/2000, 16.Jg., 31. März 2000

Schwerpunkt: 
Ausländische SELBSTÄNDIGE

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Portraits, Ausbildung, Unternehmerverbände, Unternehmensgründer, Statistik, Die AiD-Karte


Vom Arbeiter zum Unternehmer


Ozan Sinan (unser Titelfoto) hat als Musikpromoter gearbeitet und dabei unter anderem die Rapper von "Cartel" produziert. Jetzt ist er Geschäftsführer und Redaktionsleiter von etap, einer seit 1999 erscheinenden Monatszeitschrift für deutsch-türkisches Leben.

Die 90er-Jahre waren echte Gründerzeiten. Fast 300.000 ausländische Selbständige gibt es zur Jahrtausendwende in Deutschland. In ganz unterschiedlichen Branchen und Größenordnungen - vom kleinen "Onkel-Mehmet-Laden" bis zur international tätigen Softwarefirma - haben Migranten seit vielen Jahren unternehmerisch reüssiert. Zunehmend überlegen heute auch von Arbeitslosigkeit betroffene Migranten, sich erfolgreiche Gründer zum Vorbild zu nehmen und ebenfalls den Sprung in eine neue berufliche Zukunft zu wagen. Doch so einfach wie es erscheint, ist es selten. Der Start in die Selbständigkeit erfordert schon für Inländer neben der nötigen fachlichen und menschlichen Eignung eine hohe Flexibilität beim Umgang mit unterschiedlichsten Rahmenbedingungen. Unternehmensgründer mit ausländischem Pass haben darüber hinaus eine Vielzahl spezifischer bürokratischer und anderer Hürden zu überwinden. So scheitern nicht wenige. Dennoch: Migranten als Unternehmer haben längst einen festen Platz in der deutschen Wirtschaft und sind Symbolfiguren einer erfolgreichen Integration.

Es liegt in der Natur der Migrationsgeschichte, daß die Zahl ausländischer Selbständiger erst in den 70er-Jahren eine nennenswerte Grösse erreicht hat. Die Migranten der ersten Generation in Deutschland waren als Arbeitnehmer angeworben worden und blieben in der Regel auch abhängig beschäftigt. 1975 gab es beispielsweise erst 100 türkische Selbständige[1]. In den 90er-Jahren verdoppelte sich die Zahl der ausländischen Selbständigen und Unternehmer von 144.000 auf 279.000. Noch besteht Nachholbedarf. Die Selbständigenquote der Ausländer hat noch nicht die der Deutschen erreicht. Nach Angaben des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln haben über 6% aller hier registrierten Unternehmen einen ausländischen Gründer. Ihre Wirtschaftskraft und Leistungsqualität wird jedoch noch immer unterschätzt. Am "Asia-Market" geht man täglich vorbei, den italienischen Unternehmensberater, ungarischen Architekt, türkischen Rechtsanwalt oder die russische Ärztin im 3., 4. und 5. Stock des gleichen Hauses dagegen nimmt man selten wahr. Nach Angaben des Zentrums für Türkeistudien (ZfT) in Essen, das seit einigen Jahren verstärkt zu ausländischen Selbständigen forscht, betrug der Beitrag allein der türkischen Einwanderer zum Bruttosozialprodukt 1997 rund 71 Milliarden DM. Dies entsprach einem Anteil von knapp 2 %.

Nischen im Wandel

In der Forschung sind drei Modelle zur Erklärung der Bestimmungsfaktoren der Selbständigkeit von Migranten entwickelt worden: Das Nischenmodell, das Kulturmodell und das Reaktionsmodell[2]. Das Nischenmodell erklärte zunächst die wirtschaftliche Tätigkeit vor allem der ersten Phase der Zuwanderung. Die Geschäftstätigkeit ausländischer Betriebe bezieht sich hierbei vornehmlich auf die Befriedigung der spezifischen Bedürfnisse der jeweiligen ethnischen Gruppe. Es werden Waren und Dienstleistungen angeboten, die im Angebot deutscher Geschäfte fehlen. Ist die Nachfrage ausreichend groß, bietet dies eine ökonomische Basis einer erfolgreichen Selbständigkeit. Die klassischen Beispiele sind in den 60er- und 70er-Jahren entstanden: Import-Exporthändler, Lebensmittelhändler, Teehäuser und Cafés, Imbiss- und Restaurantbetriebe, spezialisierte Reisebüros und Übersetzungsbüros. Diese Betriebe ergänzen die deutsche Wirtschaft. Einige orientieren sich durch ein verändertes Konsumverhalten heute verstärkt hin zur deutschen Kundschaft. Zu nennen sind Lebensmittelhändler und Restaurants, Änderungsschneidereien, Schuster und Elektriker. Heute ist ihre Nische zunehmend die der "Nahversorgung" aller Einwohner eines Stadtviertels. Zwar verdrängen sie zum Teil auch deutsche Betriebe, doch handelt es sich häufig um Familienbetriebe, die nur ein sehr geringes Einkommen erwirtschaften.

Rüstü Tuncay war 1963 zwar nicht bundesweit, doch in Frankfurt der erste, der das Handwerk der Änderungsschneider wieder heimisch machte. Ob es darum ging, preiswert und schnell eine Hose zu kürzen, oder einen neuen Reißverschluß einzunähen - Tuncay hatte eine Marktlücke belegt, bald mußte er Filialen eröffnen, um die Nachfrage zu befriedigen. Natürlich gab es diesen Beruf schon immer, doch war die Branche unter dem Namen "Flickschneider" im Aussterben begriffen. Änderungsschneider haben einen höheren Anspruch, als Löcher zu flicken. Und "billig" muß es auch nicht mehr sein. Die Kundschaft läßt auch teure Kleidung ändern, wenn nötig. Seit den 70er-Jahren ist die Branche der Änderungsschneidereien zunehmend zu einer Domäne von Migranten geworden. Eine Stichprobe im Hamburger Telefonbuch ergibt unter 24 Änderungsschneidereien nur vier mit - in diesem Fall durchwegs weiblichen - Inhaberinnen deutschen Namens. Eine typische Branche türkischer Existenzgründer, die sich an eine deutsche und türkische Klientel richtet, sind die Juweliere. In Köln beispielsweise sind von 76 Juweliergeschäften sieben im Besitz von Türken. Viele Türken legen ihre Ersparnisse in Goldschmuck an oder nutzen Gold als Aussteuer.

Auch die Lebensmittelhändler verkaufen zunehmend an deutsche Kundschaft. Von den 76 Lebensmittelhändlern in Stuttgart ist jeder vierte ein Migrant. Die Auswahl ist breit: Liebhaber mediterraner Küche sind in den Feinkostläden "Dolce Vita", im "Bella Italia" oder im "Sarda-Market" gut aufgehoben. Stuttgarter Gourmets sind sicher Stammkunden bei den vielen ausländischen Händlern der Markthalle. Soweit sie auf Hühnchen mit Curryreis stehen, können sie beim Stand der "Indischen Gewürze und Lebensmittel" gut einkaufen. Den guten Basmatireis dazu bekommen sie beim "Asiatischen Lebensmittelladen" in der Schwabstraße. Bei der Lebensmittel- und Getränke Groß- und Einzelhandelsgesellschaft mbH "Mazedonien" kommen Freunde der Balkan-Küche auf ihre Kosten, während Liebhaber orientalischer Küche eine breitere Auswahl haben: Sie gehen zum "Frischmarkt" von Hussain Ashsaq oder - wenn sie auf religiös einwandfreie Ware Wert legen - zu "Hilal", einer Lebensmittel Einzel- und Großhandels GmbH. Der türkische Ulusoy-Supermarkt hat Anfang 2000 freilich Konkurrenz bekommen: Die Supermarktkette "Hüdaverdi" hat eine große Filiale eröffnet und bezeichnet sich nun - mit zwei Niederlassungen in Mannheim und einer in Augsburg - als größter türkischer Supermarkt in Almanya. Neben Lebensmitteln bietet Hüdaverdi auch Textilien und ein Reisebüro. Der Lebensmittelsektor in seiner ganzen Bandbreite von der Produktion über den Handel bis zur Gastronomie ist nach einer ZfT-Studie[3] "der wichtigste Motor für die Entstehung des türkischen Unternehmertums in Europa". Allein in Deutschland seien 23.000 Unternehmer (davon 12.000 Gastronomen) in dieser Branche tätig, das sind 45% aller türkischer Selbständiger.

In den 80er- und 90er-Jahren entwickelten sich neue Branchen, die auch der Nischenökonomie zuzurechnen sind, aber die Bedürfnisse einer schon seit Jahrzehnten hier lebenden Kundschaft befriedigen: von Buchhandlungen, Druckereien und Verlagen, Radio- und TV-Sendern, Videotheken, türkischen Großdiskotheken und Brautmodenläden über Hochzeits-Festsäle, Juweliere, Fotografen, Videoproduktionen, Banken, Bauträgern und Bauhandwerksbetrieben, Kosmetik-Instituten und Friseuren bis hin zu Rechtsanwälten, Architekten, Immobilienmaklern und Versicherungsvertretern. Spektakulär ist der Erfolg der "Alo vatan" Telefondienste GmbH in Wuppertal, ein von Ghökan Matthew Inan 1999 gegründeter Telekommunikations- und Internet-Service für Deutschtürken. Diese Betriebe reagieren zum einen auf das Heranwachsen der zweiten und dritten Generation, zum anderen auf das Älter-Werden der ersten Generation. Ein wichtiger Teilbereich dieser neuen Nischen sind Dienstleistungsbetriebe für ausländische Selbständige. Zu nennen sind: Werbeagenturen, Druckereien, Lebensmittel-Großhändler, Fladenbrot-Bäckereien, Dönerproduzenten und Fleischgroßhändler, Imbissgerätehersteller, Gaststättenbedarf, Gastronomie-Abfallentsorger und Automatenaufsteller, bis hin zur Unternehmensberatung.

Ein Beispiel für eine erst spät entstandene Marktnische ist der letzte Wille vieler türkischer Migranten nach einem Begräbnis nach islamischem Ritual. Noch immer ist das fast nur in heimatlicher Erde möglich, weil Gräber "bis zum jüngsten Gericht" unangetastet bleiben sollen, die deutschen Friedhofsordnungen aber eine Belegung auf unabsehbare Zeit nicht vorsehen. So entstand eine Nachfrage nach dem Transport von Särgen per Flugzeug in die Türkei, verbunden mit der Erledigung aller Formalitäten. Anbieter einer solchen Dienstleistung gab es bis in die 80er-Jahre nicht. Der wohl erste war 1982 der Düsseldorfer Mehmet Ali Ariemre. Entdeckt hat er diese Marktlücke als Mitarbeiter der Nachlaßabteilung eines türkischen Konsulats. Anfangs betrauten ihn vor allem türkische Familien mit der Bestattung und Überführung ihrer Toten, im Lauf der Jahre kamen andere Nationalitäten islamischen Glaubens dazu. Marktführer - neben der von Ariemre gegründeten ARI Transportvermittlung GmbH - ist heute das Duisburger Beerdigungsinstitut Yavuz Transport GmbH mit Büros in Stuttgart, Köln und München. Es gibt ein Dutzend weiterer Anbieter von "Hilal Cenaze" ("Halbmond-Bestattungen"), unter anderem auch die religiösen Verbände.

Unternehmermut - kulturell vorgeprägt?

Arbeitet ein Mensch lieber selbstständig oder bevorzugt er ein Angestelltenverhältnis? Unternehmer wie Ariemre brauchten Mut. Woher nahmen sie diesen? Das sogenannte Kulturmodell geht von der Annahme aus, daß die Strukturen, Normen und Werte der Herkunftsländer stark prägend für das wirtschaftliche Verhalten von Migranten in der Aufnahmegesellschaft sind. "Ist also die Neigung zur Selbständigkeit in den Herkunftsländern besonders stark ausgeprägt, so kann man davon ausgehen, daß dieses Verhalten auch im Aufnahmeland Durchsetzung findet," begründet das ZfT. Vor allem Migranten aus Südeuropa importieren die dortige "Kultur der Selbständigkeit" häufig in die neue Heimat, betont ZfT-Leiter Prof. Faruk Sen. So betrug der Anteil der Selbständigen an allen Erwerbstätigen 1998 in der Türkei 31%, in Italien 25% und in Griechenland sogar 34%. Auch die Spanier und Portugiesen zeichnen sich durch hohe Selbständigkeitenquoten aus. Deutschland dagegen nimmt mit einer Quote von rund 10 % in Europa den vorletzten Platz ein. Das war einmal anders, aber Sen zufolge "hat die Entwicklung effektiver sozialer Strukturen das Bedürfnis nach Selbständigkeit in den zumeist reicheren Ländern des Nordens stark zurückgehen lassen, so auch in Deutschland". Ebenso wird im Kulturmodell davon ausgegangen, daß die Branchenwahl sehr stark abhängig ist von der spezifischen Wirtschaftssituation im Herkunftsland." Diese kulturelle Komponente dürfe jedoch nicht isoliert betrachtet werden, will man wirtschaftliches Handeln im Aufnahmeland erklären. Als Hintergrund unternehmerischer Tätigkeit ist dies nicht zuletzt für die dritte Generation zu vernachlässigen.

Hürden und Restriktionen

Das sogenannte Reaktionsmodell schließlich betont die Abhängigkeit der selbständigen Beschäftigung von der Wirtschaftsstruktur im Aufnahmeland. Trotz guter sprachlicher und fachlicher Qualifizierung können Migranten ihre Ideen nur teilweise oder gar nicht in die Tat umsetzen. So sind die Zugangsvoraussetzungen nach der deutschen Handwerksordnung sehr restriktiv, worüber sich auch Deutsche beklagen. Daher betätigen sich viele Migranten in sogenannt handwerksähnlichen Bereichen, die keine Meisterprüfung erfordern. Beispiele sind Schneidereien oder Gebäudereinigung. Kurz gefasst geht es beim Reaktionsmodell darum, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen der Selbständigkeit, die Wirtschaftsstruktur im Aufnahmeland, aber auch die sich verändernden Verbleibeabsichten von Migranten ihre Neigung zur Selbständigkeit und die gewählte Branche beeinflussen. Als besonders wichtige Faktoren nennt das ZfT rechtliche Rahmenbedingungen der Selbständigkeit, Wirtschaftsstruktur und Branchenmix sowie die Struktur der Arbeitslosigkeit. Auch der Wandel der Verbleibeabsichten von Migranten in Deutschland erklärt das unterschiedliche Verhalten von Selbständigen der ersten, zweiten und dritten Generation. Durch eine verbesserte Integration in Deutschland, die sich unter anderem im Bildungsniveau zeigt, verändert sich die Branchenwahl junger Unternehmer. Eine Branche wird kaum noch nach dem Kriterium gewählt, ob sie nach einer Rückkehr auch in der Heimat Erfolg verspricht. Mit der nicht immer, aber immer häufiger zutreffenden Aussage "Wer heute in Deutschland gründet, bleibt hier", beschreibt Sen diesen Wandel. Zunehmend wird auch der deutsche oder europäischen Gesamtmarkt angesprochen. Arturo Prisco zum Beispiel, ein italienischstämmiger Haute-Couture-Stoffhändler in München, beliefert auch Modehäuser in Mailand und Paris.

Chancen und Risiken

In keines dieser Modelle integrierbar sind soziale Normen und Werte sowie finanzielle Aspekte, die auch wichtige Gründungsmotivationen sind. Die Bandbreite reicht hier vom Streben nach Unabhängigkeit über die Aussicht auf ein höheres Einkommen und Vorsorge für die Kinder bis zur Verbesserung des Sozialprestiges. Hier liegen die Chancen einer Selbständigkeit. Diese birgt aber auch Risiken in sich. Die Bereitschaft, eine eigene Existenz aufzubauen und eine entsprechende Risikobereitschaft zu haben, ist neben der kulturellen Prägung auch abhängig von der eigenen sozialen Sicherheit. So erklärt ZfT-Leiter Sen den relativ stärkeren Drang von Migranten in die Selbstständigkeit auch mit ihrer vergeichsweise geringen sozialen Sicherheit. Inzwischen sind Migranten stark betroffen vom Strukturwandel - der mit einem hohem Stellenabbau vor allem in Branchen mit traditionell starkem Migrantenanteil einhergeht. Vor allem die Zunahme weiblicher Existenzgründer erklärt sich vor diesem Hintergrund. Hierbei können Nischen längst nicht mehr als sicheres Tor zum Erfolg dienen. Das war einmal. Wenn der oder die Gründer/in lediglich nachahmend in einer Branche mit viel Konkurrenz tätig wird, handelt es sich selten um eine Innovation mit guten Marktchancen, sondern meist um eine Flucht aus der Arbeitslosigkeit, deren Scheitern dann meist vorprogrammiert ist. Im Konkurs endet manche Unternehmung, die hoffnungsfroh begonnen hat. Als Beispiel sei der Dagyeli Verlag in Frankfurt genannt, der in den 80er-Jahren als einer von wenigen Verlagen Werke türkische Autoren in deutscher Übersetzung herausbrachte und dennoch kürzlich Konkurs anmelden mußte.

Migranten scheitern jedoch nicht häufiger als deutsche Jungunternehmer. Auch die dahinter stehenden Probleme sind ähnlich: Mangel an kaufmännischen Kenntnissen, keine ausreichende Marktanalyse und zu wenig Eigenkapital. Dazu kommen jedoch schlechtere Startbedingungen in Bezug auf Bildungs- und Sprachbarrieren sowie rechtliche Hürden. Erschwerend kommt jedoch hinzu, daß Migranten die Beratungs- und Fördermöglichkeiten meist nicht gut genug kennen, von Banken und Behörden nicht immer ernst genommen werden und auch sprachliche Probleme haben, ihr Konzept schlüssig zu präsentieren. Zur langfristigen Sicherung des Unternehmenserfolges ist professionelle Beratung und Hilfestellung nötig - unabhängig von der Nationalität der Inhaber (vgl. "Transferstellen").

"Strohmänner" werden nicht mehr gebraucht

Fast die Hälfte der ausländischen Unternehmer stammen aus den drei größten ehemaligen Anwerbestaaten: der Türkei, Italien und Griechenland. Die meisten betreiben ein Kleingewerbe, was sich auch in der Beschäftigung niederschlägt: Viele Selbständige führen ihren Betrieb nach wie vor alleine, beziehungsweise mit mithelfenden Familienangehörigen. Gleichwohl wachsen diese Betriebe. Einer Repräsentativbefragung des ZfT zufolge beschäftigten 33% der türkischen Selbständigen 1998 vier bis neun Mitarbeiter, 10% beschäftigten zehn und mehr Mitarbeiter. Die zahlenmäßig stärkste Gruppe sind türkische Unternehmer (vgl. auch die Statistiken auf S. 8). Einer Untersuchung des ZfT zufolge gab es 1998 rund 51.000 türkische Firmen, die mit 265.000 Beschäftigten bei einem Umsatz von rund 46,1 Milliarden DM gut 11,1 Milliarden DM investiert haben[4]. Türkische Selbständige leben durchschnittlich seit 20 Jahren in Deutschland und haben neun Jahre selbständige Erfahrung hinter sich. Über ein Viertel ist seit über zehn Jahren selbständig, wobei manche "auf ein Unternehmertum zurückblicken können, das praktisch so alt ist wie die Migrationsgeschichte der Türken in Deutschland." Die meisten begannen jedoch erst zu Beginn der 80er-Jahre, sich selbständig zu machen. Diese - im Vergleich zu anderen Nationalitäten - Verspätung hat vor allem einen rechtlichen Hintergrund: Türken profitierten im Gegensatz zu Italienern und später auch Griechen, Spaniern und Portugiesen als Nicht-EG-Bürger auch nicht von den EG-Freizügigkeitsrechten. Solange sie nur eine Aufenthaltserlaubnis in ihrem Paß vorweisen konnten, hatten sie kaum Chancen, sich selbständig zu machen. Daher gab es, so Andreas Goldberg vom ZfT, in den siebziger Jahren zahlreiche "Strohmann-Verhältnisse". Ein bekanntes Beispiel war ein Dortmunder Rentner, der offiziell 15 türkische Lebensmittelgeschäfte besaß. Erst nach acht Jahren in Deutschland bestand für die eigentlichen Betreiber dieser Firmen die Möglichkeit, eine Aufenthaltsberechtigung zu erwerben und sich selbständig zu machen. Daher nahmen Anfang der 80-er Jahre die türkischen Existenzgründungen rapide zu. Seit einigen Jahren stark steigend ist auch der Anteil der weiblichen Selbständigen türkischer Herkunft, den das ZfT 1998 auf rund 20% bezifferte.

Auch die Mehrheit der 40.000 italienischen, 12.000 griechischen und 4.500 portugiesischen Unternehmer bevorzugt den Dienstleistungssektor. Neben dem Einzelhandel ist die Gastronomie hier die wohl wichtigste Branche für Migrantenunternehmen. Und das seit Jahren. Pioniere in den 50er- und 60er-Jahren waren die Italiener und Jugoslawen, später eröffneten die Griechen und Chinesen Restaurants, dann waren es die Türken, die der deutschen Kundschaft kulinarisch Neues zu bieten hatten. Fast jeder dritte registrierte ausländische Betrieb verdient in diesem Bereich sein Geld. Im Handwerk gehören weniger als die Hälfte ausländischer Handwerksbetriebe dem Vollhandwerk an, das heißt sie besitzen einen Meisterbrief und dürfen auch Lehrlinge ausbilden[5]. Die meisten ausländischen Handwerksbetriebe finden sich im Bau- und Ausbaugewerbe - mehr als jeder dritte ausländische Handwerker arbeitet dort. Es folgen die Bereiche Bekleidung, Textil und Leder sowie Elektro und Metall.

Dynamisierungswirkung

Die Migrationsentwicklung der vergangenen 50 Jahre hat auch in der Unternehmerstruktur ihre Spuren hinterlassen. Ein Generationswechsel vollzieht sich seit Ende der 80er-Jahre und bringt andere Formen der Selbständigkeit hervor, die aus der Nischen-Ökonomie der ersten Migrantenunternehmen herausführen beziehungsweise diese ergänzen. Mittlerweile ist die Bandbreite unternehmerischer Aktivitäten enorm gewachsen. Den "Gastarbeitern" der ersten Generation, von denen die meisten ausschließlich das in langen Arbeitsjahren als Beschäftigte angesparte Eigenkapital zur Existenzgründung einsetzen, stehen die Jungunternehmer der zweiten und dritten Generation gegenüber. Sie sind in der Regel besser ausgebildet und wesentlich besser über öffentliche Förderprogramme unterrichtet - die sie auch nutzen. Zwei von Ihnen, Kemal Sahin und Dr. Metin Colpan wurden 1997 und 1998 vom "Manager Magazin" zum "Unternehmer des Jahres" gewählt.

Von Migranten gegründete Unternehmen tragen nicht nur zum Bruttosozialprodukt bei und schaffen Arbeits-und Ausbildungsplätze auch für Deutsche. Vor dem Hintergrund der Probleme von Strukturwandel und Arbeitslosigkeit "dynamisieren" sie die deutsche Wirtschaft, wie Faruk Sen bei einem Vortrag im November 1999 in Berlin argumentierte. Er präsentiert eine überraschende Antwort auf die von Ökonomen und Politikern aufgeworfene Frage, wie die Angestelltenmentalität der Deutschen in eine Unternehmermentalität umgewandelt werden kann. Es seien auch die Migranten, die den Wandel vorantreiben. Als "Botschafter der Selbstständigkeitskulturen ihrer Herkunftsländer" würden sie in Deutschland zu "Promotern der Selbstständigkeit". Sen sieht vor allem die türkischen Selbständigen als "Vorhut" dieses Wandels. Wie sehr gerade sie aus der früheren Nische herausgetreten sind, verdeutlicht ihre hohe Verflechtung mit der deutschen Wirtschaft. Nach Zahlen des ZfT erhalten 73 % aller türkischen Selbständigen Waren und Dienstleistungen von deutschen Lieferanten, 87% weisen als Kunden auch Deutsche auf. Auch die Beschäftigtenstruktur zeigt dies: Unter den 265.000 von türkischen Firmen beschäftigten Mitarbeitern finden sich 80.000 nicht-türkischer Nationalität, darunter 52.000 Deutsche. Am weitesten fortgeschritten ist dieser Trend bei den Pizza-Lieferdiensten: Italienisch ist hier meist nur noch das Rezept: Der Kunde telefoniert mit einem türkischen Pizza-Service, es backt ein Pakistani und ein Deutscher bringt ihm die Pizza an den Fersehsessel. Wie diese, entstand manch weitere Branche mit Milliardenumsatz durch Produktinnovationen von Migranten, wobei Eisdielen, Döner-Imbisse und -Fabriken die wohl erfolgreichsten, wenn auch oft belächelten, Beispiele sind.


[1] Goldberg, Andreas/Sen, Faruk: Türkische Unternehmer in Deutschland, in: iza 1-1999, S.29-37

[2] Zentrum für Türkeistudien (Hg.): Nur der Wandel hat Bestand. Ausländische Selbständige in Deutschland, Essen 1995.

[3] Zentrum für Türkeistudien (Hg.): Der türkische Lebensmittelmarkt in Europa, Essen 1999.

[4] Zentrum für Türkeistudien (Hg.): Die ökonomische Dimension der türkischen Selbständigen in Deutschland, Essen 1999.

[5] Lenske, Werner/Werner, Dirk: Ausländische Unternehmen in Deutschland: Ausbildungssituation und Ausbildungspotential, Beiträge zur Gesellschafts- und Bildungspolitik 223, 2/1998, hg. vom Institut der Deutschen Wirtschaft Köln

Autor: Ekkehart Schmidt, isoplan

Hinweis: Der Text ist eine im Vergleich zur Druckausgabe ausführlichere Fassung.

Foto: etap

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Transferstellen

Erste Adresse für ausländische Firmengründer

Dawn Michelle D'Atri und Sandra Schimanski hatten die zündende Idee: Sprachenlernen im Tandem. Zwei Lerner sollen sich gegenseitig ihre jeweiligen Muttersprachen beibringen - live oder im Internet. D'Atri und Schimanski wollen die Partner vermitteln, betreuen und spezielle Lehrmaterialien für sie entwickeln.

Mit dieser Idee wandte sich die Amerikanerin D'Atri an die Regionale Transferstelle für ausländische Existenzgründer in Duisburg. In der Beratung wurden die rechtlichen Schritte geklärt und Fördertöpfe aufgetan, um zum Beispiel Büroräume an der Bochumer Universität günstig zu bekommen und einzurichten. Rund 1.500 Existenzgründer und Jungunternehmer haben die Regionalen Transferstellen seit 1995 persönlich beraten. Von den ursprünglich sechs Stellen haben sich drei etabliert: in Essen, Duisburg und Bonn. Sie werden vom Wirtschaftsministerium NRW als Teil der Gründungsoffensive des Landes "GO!" finanziert und vom Zentrum für Türkeistudien (ZfT) in Essen getragen, die Bonner Stelle ebenfalls vom Verband portugiesischer Unternehmer.

Die Transferstellen lotsen die ausländischen Firmengründer durch ein kompliziertes Terrain, machen auf die Förderbudgets von Bund und Ländern aufmerksam und unterstützen sie bei den Verhandlungen mit Kreditinstituten, Arbeitsämtern oder Industrie- und Handelskammern. So erfuhr ein türkischer Ingenieur, der sich mit Providerdiensten selbständig machen wollte, erst durch die Transferstelle von der Möglichkeit, ein sogenanntes "soziales Unternehmen" zu gründen. Weil er Langzeitarbeitslose und Frauen anstellte, bekam er eine großzügige Landesförderung.

Da sich ihre Zielgruppe bevorzugt über informelle Kanäle informiert, müssen sich die Transferstellen nicht nur bei Verbänden und Ausländerbeiräten, sondern auch innerhalb der ethnischen Gemeinden bekannt machen, um wirklich die erste Adresse für potentielle Unternehmer zu werden. Der Betreuungsaufwand ist sehr unterschiedlich. Oft reicht eine telefonische Beratung, um konkrete Fragen zu klären. Notfalls werden die Ratsuchenden an private Unternehmensberater vermittelt. Manchmal wird aber eine Firma über Jahre hinaus begleitet. Die größte Gruppe der Beratenen sind türkische Existenzgründer. Unterstützung bei der Existenzgründung sind das eine. Angeboten werden aber auch Gespräche zum Thema Existenzfestigung und Betriebserweiterung.

Kontakt:
Es gibt drei regionale Transferstellen in:
- Bonn 0228/52694-15
- Essen 0201/302387
- Duisburg 0203/3061-440


Autorin: Matilda Jordanova-Duda

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