Integration in Deutschland 3/2005, 21.Jg., 20. September 2005

BILDUNG / ZUKUNFT

"Das sind schon echte Deutsche"

 

Wie werden wir in 10, 20, 30 Jahren leben? In Zeiten allgemeiner Verunsicherung schauen viele Menschen besorgt in die Zukunft. Ausbildung und Beruf, Gesundheit und Rente, Familie und Freunde werden in die Überlegungen einbezogen - gerade auch bei den Migranten. Während für die Jüngeren Fragen der Ausbildung und der Berufswahl im Vordergrund stehen, spielen in den Zukunftsüberlegungen der Älteren nicht selten Gedanken an eine Rückkehr in die alte Heimat eine Rolle. Viele hat das Heimweh nie ganz verlassen, und im Rentenalter stellt sich die Frage einer möglichen Rückkehr mit neuer Aktualität. Doch bleiben viele hin- und hergerissen zwischen diesem Wunsch und der Bindung an die Familie, die inzwischen hier in Deutschland Wurzeln geschlagen hat. (mz)

Renate Schmidt-Bolzmann (67), Kommunalpolitikerin: "Sorgen mache ich mir darüber, dass offenbar viele - oft minderjährige - türkische Frauen durch Heirat (hoffentlich nicht immer Zwangsheirat) nach Deutschland kommen, ohne jegliche Deutschkenntnisse. Auch hier gab es bislang keine Pflicht zum Deutschlernen. Die Kinder kommen dann fast ohne Sprachkenntnisse in die Schule und sind zum Scheitern verurteilt. Staatliche Leistungen sollten mit der Pflicht wenigstens zum Bemühen um die Sprache verbunden werden."


(c) Ulrike Rustemeyer

Nikolaj Kuzelev (19) kam 2001 aus Kasachstan: "Mir ist aufgefallen, dass die Schule hier auf jeden Fall schwächer ist als in Russland. Auf jeden Fall! Was die Disziplin angeht, aber auch den Lehrstoff. Zum Beispiel Mathe ist in Russland viel schwieriger. Ich kann auch nicht verstehen, warum viele von den deutschen Schülern ihre Hausaufgaben nicht machen, sondern in die Schule kommen und sagen: >Ich habe die Hausaufgaben vergessen.< Der Lehrer trägt zwar eine Sechs ein, aber das bringt nichts... Wofür gehst Du zur Schule, wenn du nichts dafür machst? Da kannst du gleich auf dem Sofa liegen bleiben und Fernsehen gucken."

Lisa Schäfer (24), Lehramtsstudentin: "Was ich in meiner Ausbildung lerne - zum Beispiel in einem Seminar zu Interkultureller Kompetenz - ist noch sehr theoretisch. Wenn ich an den hohen Anteil von Migrantenkindern in den Schulen denke, müßte noch viel mehr gemacht werden. Das Hauptproblem sehe ich in der Sprache. Manche sprechen sehr gut Deutsch, andere nicht. Ich finde es auch sehr problematisch, wenn deutsche Kinder, die eigentlich gutes Hochdeutsch sprechen, in der Schule dieses "Erkan & Stefan - Deutsch", diesen reduzierten Wortschatz aus Talkshows übernehmen. Da sollte man in der Schule entgegenwirken."


(c) Ulrike Rustemeyer

Viktor Petri (55) kam 1996 aus Russland: "Eine gute Ausbildung für die Kinder ist das A und O... Auch heute denke ich, dass die technisch-mathematische Ausbildung in Russland besser ist. Dafür fehlten mir die Fremdsprachen und die humanistischen Fächer. Man war auch wenig motiviert, Fremdsprachen zu lernen. Wir wussten ja alle, dass es keine Gelegenheiten geben würde, das Land zu verlassen. Bei meinen Kindern habe ich ja erleben können, dass die deutsche Schule nicht nur Fachwissen vermittelt. Sie fördert viel stärker die Selbständigkeit, bereitet damit natürlich umfassender auf das Leben vor... Meine Kinder sind nun perfekt zweisprachig. Das ist ein großer Vorteil, den sie vielleicht ja später auch beruflich nutzen können. Russland ist ein großer Markt. Warum sollen dann meine Kinder ihre doppelten Fähigkeiten nicht nutzen?"


(c) Ulrike Rustemeyer

Nermin Özdil (62) kam 1973 aus der Türkei: "Wir haben nicht einen Elternabend verpasst. Manchmal musste ich von einem Elternabend zum anderen hetzen, weil zwei auf einem Tag lagen, aber das war mir nicht zu viel... Ich wollte immer alles wissen und kümmerte mich um alles. Ich lud sogar die Lehrer zu mir nach Hause ein oder besuchte sie zu Hause, um mit ihnen zu sprechen, das fanden die Lehrer natürlich gut. Wären doch alle Mütter so, sagten sie. Es gab sogar Dolmetscher für die Elternabende, aber die anderen Eltern waren daran nicht besonders interessiert. Die dachten wohl: ‚Ach, wir verstehen sowieso nichts, wozu sollen wir au die Elternabende.'"


(c) Ulrike Rustemeyer

Behcet Algan (52) kam 1979 aus der Türkei: "Natürlich habe ich mit der deutschen Sprache mehr Probleme als mit der türkischen. Ich kann zwar meine Meinung auf Deutsch erklären, aber Türkisch ist für mich doch leichter. Wenn ich Deutsch so wie Türkisch sprechen könnte, hätte ich politisch noch mehr bewirken können. Für mich ist das Hauptproblem die Sprache, das ist bei der ganzen ersten Generation der Gastarbeiter so... Meistens spreche ich Türkisch mit meinen Kindern, schon damit sie es nicht verlernen, aber wenn ich Deutsch rede, verbessern sie mich ständig. Nach einer Weile reicht es mir dann und ich sage: ‚Jetzt lasst mich mal in Ruhe.'"

Mete Atay (57) kam 1978 aus der Türkei: "Ende der 70er Jahre hat mich das türkische Bildungsministerium nach Deutschland geschickt, meine Frau ist mit unserem Sohn ein Jahr später nachgekommen. Wir waren schon in der Türkei Lehrer. Hier haben wir festgestellt, dass die Kinder die Schulbücher benutzten, die in der Türkei in Gebrauch waren. Das war nicht richtig, denn sie lebten hier, konnten Türkisch nur Zuhause reden. Deshalb haben meine Frau und ich angefangen, selbst Lehrbücher für den Muttersprachunterricht zu schreiben. Die erste Serie erschien 1982. Sie knüpfte noch an die türkischen Lehrpläne an, weil die Familien ja zurückkehren wollten. Zehn Jahre später merkten wir, dass sie doch nicht zurückkehren werden, und die neuen Kinder die Muttersprache nur passiv kennen und die Zukunft in Deutschland sehen. Für sie schrieb ich andere Schulbücher."

Elwan Güzel (23) kam 2002 als Asylbewerberin aus der Türkei: "Ich habe einen Sprachkurs besucht und mache eine Therapie, weil es mir psychisch sehr schlecht geht. In der Türkei konnte ich nur fünf Jahre zur Schule gehen. Für Mädchen sei die Schule nicht gut, hieß es bei uns. Jetzt möchte ich weiter lernen und ein Buch schreiben."


(c) Ulrike Rustemeyer

Hadiye Akin (57) kam 1969 aus der Türkei: "Wenn ich sechs Wochen in der Türkei war, bekomme ich Heimweh nach Hamburg. Mein Mann sagt manchmal, er würde gern drüben leben oder wenigstens mal sechs Monate dort bleiben. Aber im Moment kann ich mir das gar nicht vorstellen. Vielleicht später einmal. Meine Kinder leben hier, die möchte ich jede Woche sehen. Und ich liebe die Freunde und Kollegen. Jetzt in die Türkei zu gehen, wäre ein wenig so wie damals, als ich nach Deutschland kam: ich wäre ein bisschen fremd. Wenn ich krank wäre, wüsste ich nicht mal, zu welchem Arzt ich gehen sollte."


(c) Ulrike Rustemeyer

Behcet Algan (52) kam 1979 aus der Türkei: "Nach Solingen und Mölln sagte ich mir, wenn das deutsche Volk jetzt nicht reagiert, wie sollen wir Türken uns dann verhalten? Aber Gott sei Dank haben wir alle, Hand in Hand, sofort reagiert und klar gemacht, dass solche Sachen in Deutschland nicht wieder passieren dürfen. Im ersten Schock dachten wir für kurze Zeit, wir müssen hier weggehen. Aber ich will in Deutschland bleiben. Ich bin in der Türkei inzwischen zu fremd, um dort für immer zu leben. Ich bin gern mal für zwei, drei Monate da. Aber dann will ich auch zu meinen Kindern und Enkeln zurück. Vielleicht bleibe ich hier, bis ich sterbe."

Evgenija Barinova, russische Asylbewerberin, kam 2001 aus Transnistrien: "Ich wünsche mir, eine gute Ausbildung machen zu können und eine Arbeit zu finden. Ich werde in meine Heimat zurückkehren müssen, weil der Asylantrag meines Mannes abgelehnt wurde. Von ihm habe ich mich mittlerweile getrennt und lebe jetzt alleine mit meinem Sohn. Ich möchte jedoch gerne nach Deutschland zurückkehren, nachdem ich meine Familie noch einmal wiedergesehen habe."


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Erdem Dilsen (74) kam 1957 aus der Türkei: "Meine Generation sitzt jetzt nur noch vor dem Fernseher, ihre Zeit ist abgelaufen. Das muss man respektieren. Jetzt sind die zweite, die dritte und vierte Generation an der Reihe. Das sind schon echte Deutsche... Wenn man älter wird, beginnt man auch darüber nachzudenken, wo man begraben werden möchte. Meine Freunde sagen zwar: ‚Du bist noch jung und brauchst nicht darüber nachzudenken.' - Aber ich bin ja mit 72 Jahren schon alt. Obwohl ich seit 15 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft habe, möchte ich in der Türkei begraben werden, ich habe in der Türkei auch schon ein Grab gekauft. In Köln gibt es von der staatlichen türkischen Religionsbehörde ein Beerdigungsinstitut. Wenn ich sterbe, werde ich auf richtig muslimische Art mit einem Begleiter an meine Grabstelle in Istanbul gebracht. Dafür habe ich gesorgt. In diesem Moment werde ich also zurück in die Türkei gehen, wo mein Vater und meine Mutter liegen."


(c) Ulrike Rustemeyer

Nikolaj Kuzelev (19) kam 2001 aus Kasachstan: "Meine Zukunftspläne? Ich will zuerst mein Abitur machen. Ich will in der Schule mein Bestes geben, damit ich später dafür belohnt werde. Natürlich habe ich Wünsche wie andere auch: einen Fernseher, ein Auto, ein Haus. Mit einer Familie ist es noch zu früh für mich, ich bin ja erst 17 Jahre alt. Erst einmal möchte ich mein eigenes Leben bestreiten können."


(c) Ulrike Rustemeyer

Nermin Özdil (62) kam 1973 aus der Türkei: "Unsere Kinder sind aus dem Haus und wir haben unsere Aufgaben erfüllt. Mein Mann ist pensioniert und ich warte darauf, meine Rente zu erhalten. Wie in vielen anderen türkischen Familien taucht dann der Gedanke auf, ob man nicht jetzt wieder zurückgehen will. Bei mir kommt noch dazu, dass ich Rheuma habe und das Wetter hier nicht vertrage. Aber wenn alle meine Kinder und Enkelkinder hier leben, kann ich doch nicht einfach ganz weggehen. Im Moment planen wir, sechs Monate hier und sechs Monate dort zu leben. In der Türkei bekommt man keine Kopfschmerzen, da wird man nicht so krank... Meine Kinder sagen, dass es hier auch einen türkischen Friedhof gibt. Sie haben sich dort eine Grabstelle gekauft. Wenn bei uns jemand stirbt, muss er ja gewaschen und in einem Tuch begraben werden, nicht in Holz. Meine Tochter sagte zur mir: ‚Mama, mach Dir keine Sorgen, wir machen das. Wir lassen da keine fremden Leute ran. Einen Hoca gibt es auch. Lass dich nicht in der Türkei begraben. Wer soll sich dort drum kümmern?' Aber ich sehe es so: Die Gebete gehen zu Gott. Ob du hier betest oder dort betest, sie gehen immer zu Gott, egal wo du bist. Mein Kinder müssen nicht zum Beten zu meinem Grab kommen, es reicht, wenn sie hier beten. Sie brauchen keine Angst zu haben, die Gebete kommen schon zu mir."

Alma R. (24), kam 1992 aus dem Kosovo: "Ich gehöre zu einer Zigeunerminderheit im Kosovo und habe Angst, dass ich bald abgeschoben werde. Dort droht mir Verfolgung durch Kosovo-Albaner. Ich habe dort keine Zukunftschancen. Nun hoffe ich auf die Härtefallkommission."


Literaturtipp

Viele Zitate der Schwerpunkt-Seiten (Arbeit, Heimat, Familie, Kultur, Zusammenleben, Bildung / Zukunft) stammen aus zwei Publikationen der Körber-Stiftung (www.edition-koerber-stiftung.de). Sehr anschaulich werden Biografien von Migranten präsentiert, die den Leser in Lebenswelten unterschiedlicher Träume, Enttäuschungen und Erfahrungen eintauchen lassen.

Michael Richter
gekommen und geblieben,
Deutsch-türkische 
Lebensgeschichten
mit einer Einführung von Dilek Zaptçioglu, 280 S. mit 56 s/w-Abbildungen
ISBN 3-89684-048-7
Euro 14,–

Dorothee Wierling (Hrsg.)
Heimat finden
Lebenswege von Deutschen, die aus Russland kommen
280 Seiten mit 54 s/w-Abbildungen
ISBN 3-89684-043-6
Euro 14,–

Darüber hinaus sind einzelne Zitate dem Interkulturellen Stadtführer Gelsenkirchens entnommen (Gelsenkirchen - eine Stadt mit vielen Kulturen. Ein interkultureller Stadtführer, erstellt von Patricia Ferdinand-Ude, 2002). Auch diese - mittlerweile vergriffene - Publikation stellt Migrantenbiografien in sehr anschaulicher Art und Weise dar.

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