Integration in Deutschland 3/2005, 21.Jg., 20. September 2005

FAMILIE

"Wir waren wie Wachhunde"

 

Zweifellos ist die Familie einer der wichtigsten Faktoren im Migrationsprozess. Wie oft gab der Wunsch, der Familie und insbesondere den Kindern eine aussichtsreiche Zukunft bieten zu können, den Ausschlag für die Entscheidung, das Heimatland zu verlassen? Eine solche Entscheidung verändert das Leben aller Familienmitglieder: jener, die zurückbleiben und jener, die den Schritt in die neue Heimat mit wagen. In Deutschland angekommen muss sich die Familie neu zusammenfinden.

Wer kommt in dem neuen Land besser zurecht? Wer beherrscht die Sprache? Ändern sich aus der Heimat bekannte Rollenbilder? Wie vollzieht sich der Ausgleich zwischen Arbeit und Familie, Tradition und Moderne in der Beziehung und der Erziehung? Welchen Stellenwert hat die Familie in der neuen Heimat? (vf)


(c) Ulrike Rustemeyer

Behcet Algan (52), kam 1979 aus der Türkei: "Wir hatten durch die viele Arbeit immer wenig Zeit für die Kinder, aber auch für uns beide. Bis heute denke ich manchmal: Wann habe ich denn mal ganz ruhig im Fernsehsessel gesessen? Vielleicht einmal im Jahr. Immer war was los... Ich hätte gern mehr Zeit für meine Kinder gehabt. Aber damals hatten wir die Wahl: arbeiten, um für die Kinder etwas zu erreichen, oder zu Hause sein. Ich habe mich für das Erste entschieden. Vielleicht wollen wir uns um unsere Enkel deshalb besonders kümmern."


(c) Ulrike Rustemeyer

Nermin Özdil (62), kam 1973 aus der Türkei: "Meine Kinder waren immer fleißig und klug. Sie haben nie Dummheiten gemacht, sie haben Sport und Musik gemacht, Fußball gespielt, ach, sie waren immer beschäftigt. Mein Mann war auch immer hinterher. Sie durften nie ausgehen, z.B. durften sie nie in die Disko. Außerdem mussten sie immer um 5 Uhr nachmittags oder später dann um 7 Uhr abends zu Hause sein. Wir waren wie Wachhunde. Sie sollten nicht klauen und keine Dummheiten machen. Jetzt sind sie dankbar dafür, sie sagen uns, dass wir das ganz gut gemacht haben. Alle haben die Universität besucht... Ich fürchtete immer ein bisschen, sie würden uns eines Tages vorwerfen, dass wir nach Deutschland gegangen sind."


(c) Ulrike Rustemeyer

Hadiye Akin (57), kam 1969 aus der Türkei: "Arbeiten und Deutschlernen, das war ein ewiger Streit zwischen uns in der Anfangszeit. Schließlich gab mein Mann doch etwas nach... Er fürchtete, ich würde irgendwann studieren und als Lehrerin arbeiten. Und er wollte nicht, dass ich ihm über den Kopf wachse... Ich wusste, was in ihm vorging und hätte auch gern mit ihm darüber geredet. Aber er ist kein Mann der vielen Worte. Er sagte damals immer: ‚Ich möchte jetzt nicht darüber reden. Ich muss morgen früh arbeiten gehen.' ... Seit ich den Führerschein gemacht hatte, wünschte ich mir einen cremefarbenen VW-Käfer. Eines Tages rief mein Mann mich ans Fenster. Draußen stand das Auto meiner Träume. Er fragte mich: ‚Möchtest du so ein Auto?' - ‚Ja, genau so eins will ich haben', antwortete ich. Er sagte nur: ‚Es ist dein.' - Mein Mann hat sich immer bemüht, mich glücklich zu machen".


(c) Ulrike Rustemeyer

Nikolaj Kuzelev (19), kam 2001 aus Kasachstan: "In den letzten zwei Jahren hat sich für mich und meine Familie viel geändert. Eigentlich kann man sagen, dass ich ziemlich schnell erwachsen geworden bin - oder werden musste. Einfach deshalb, weil meine Eltern nicht so schnell Deutsch gelernt haben und sich deshalb hier auch nicht so zurechtfinden konnten. Also bin ich bald zum Familiendolmetscher geworden... Überfordern tut mich das eigentlich nicht. Es ist ganz normal, dass ich jetzt versuche, etwas für meine Familie zu tun. Es ist ein Geben und Nehmen."


(c) Ulrike Rustemeyer

Cengiz Yagli (49), kam 1976 aus der Türkei: "Es war nie einfach, mit einer deutschen Frau zu leben. Schon die deutschen Familienverhältnisse empfinde ich als sehr kompliziert, einerseits so distanziert, andererseits so chaotisch. Wenn man in so einer Beziehung lebt, wird einem auch sehr schnell klar, wie unterschiedlich wir geprägt sind. Außerdem haben wir beide ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. Meine Frau ist eine sehr strukturierte, vorausschauende Frau, ganz wie ihre Eltern. Ich bin ein eher chaotischer Typ... Solche Geschichten machten uns am Anfang große Probleme. Man kann es auch positiv sehen - umso größer war letztlich die gegenseitige Ergänzung. Was ich hatte, hatte sie nicht, was sie hatte, hatte ich nicht.... Ich habe immer offen mit meinen Kindern darüber gesprochen, was ich mir für sie wünsche, was mir wichtig ist und Freude macht. Da bin ich genauso offen wie meine Eltern damals. Ich wünsche mir, dass sie selbständig sind und sich selbst schätzen. Wenn sie verstehen, Freude zu haben, ihr Leben zu organisieren und mit anderen Menschen in Solidarität zu leben, dann sollen sie den Rest selbst ausfüllen. Denn jeder Mensch ist anders, ich würde niemals nach meinem Muster irgendjemanden beeinflussen."


(c) Ulrike Rustemeyer

Sophie Wagner (52), kam 1991 aus Kasachstan: "Am Anfang war ich in der Familie für alles verantwortlich, was nicht klappte. Als treibende Kraft musste ich mir von meinem Mann und besonders von meinem Schwiegersohn anhören, wie schlecht sie sich als Sozialhilfeempfänger fühlten. Sie wollten lieber sofort arbeiten und nicht Deutschkurse besuchen. Wenn auch mir einmal etwas nicht gefiel oder schwer fiel, musste ich schweigen."

Natascha Mulear (32), kam 2001 aus Russland: "Meine Freundinnen und ich können uns gar nicht vorstellen, dass ein deutscher Mann sich einer attraktiven Frau auf der Straße, im Laden oder sonst wo nähert und selbst die Initiative ergreift... Vermutlich sind hier die Vorstellungen davon, was sich geziemt, anders. Natürlich verlassen sich die russischen Frauen mehr auf die Initiative der Männer. Wir sind so erzogen, das ist unsere Mentalität. Eine Freundin von mir war sogar so verzweifelt, dass sie sich an eine Heiratsvermittlung wandte. Hier sind die Frauen die Aktiven, für den osteuropäischen Geschmack vielleicht sogar aggressiv. Alle Leute lächeln einander hier an, alle sind anscheinend nett, freundlich, aber die Kontakte sind entweder geschäftlich oder oberflächlich. Da wir ja keine Deutschen kennen lernen können, versuchen sich die Russischsprachigen zu helfen. So gibt es nun arrangierte Ehen wie in den längst vergangenen Zeiten".


Literaturtipp

Viele Zitate der Schwerpunkt-Seiten (Arbeit, Heimat, Familie, Kultur, Zusammenleben, Bildung / Zukunft) stammen aus zwei Publikationen der Körber-Stiftung (www.edition-koerber-stiftung.de). Sehr anschaulich werden Biografien von Migranten präsentiert, die den Leser in Lebenswelten unterschiedlicher Träume, Enttäuschungen und Erfahrungen eintauchen lassen.

Michael Richter
gekommen und geblieben,
Deutsch-türkische 
Lebensgeschichten
mit einer Einführung von Dilek Zaptçioglu, 280 S. mit 56 s/w-Abbildungen
ISBN 3-89684-048-7
Euro 14,–

Dorothee Wierling (Hrsg.)
Heimat finden
Lebenswege von Deutschen, die aus Russland kommen
280 Seiten mit 54 s/w-Abbildungen
ISBN 3-89684-043-6
Euro 14,–

Darüber hinaus sind einzelne Zitate dem Interkulturellen Stadtführer Gelsenkirchens entnommen (Gelsenkirchen - eine Stadt mit vielen Kulturen. Ein interkultureller Stadtführer, erstellt von Patricia Ferdinand-Ude, 2002). Auch diese - mittlerweile vergriffene - Publikation stellt Migrantenbiografien in sehr anschaulicher Art und Weise dar.

[ Seitenanfang ] [ Nächste Seite ] [ Vorherige Seite ]

© isoplan-Saarbrücken. Nachdruck und Vervielfältigung unter Nennung der Quelle gestattet (bitte Belegexemplar zusenden).

Technischer Hinweis: Falls Sie diese Seite ohne das Inhaltsverzeichnis auf der linken Seite sehen, klicken Sie bitte HIER und wählen Sie danach die Seite ggf. erneut aus dem entsprechenden Inhaltsverzeichnis.