Integration in Deutschland 3/2005, 21.Jg., 20. September 2005

SCHWERPUNKT: 
ZUWANDERUNGSLAND DEUTSCHLAND

*) Diese Beiträge wurden im Druck-Exemplar nicht veröffentlicht!


Arbeit

Arbeiten in Deutschland, gutes Geld verdienen, sparen – und dann nach einer Reihe von Jahren als „gemachter Mann“ in die Heimat zurückkehren: das war für viele Migranten der ersten Generation, die sich nach Deutschland aufmachten, Hauptmotiv und optimistische Perspektive zugleich. Doch was bedeutet Arbeit in der Fremde?

Schwierigkeiten mit der Sprache und mit anderen Verhaltensweisen, ein straffer Arbeitsrhythmus, strenge Vorgesetzte, und mit dem scheinbar hohen Lohn ist es in einem „teuren“ Land wie Deutschland auch nicht so weit her. Wieso gilt meine Ausbildung plötzlich nichts mehr? Warum verdient der andere mehr bei weniger Leistung? Warum werde ich nicht meiner Qualifikation entsprechend eingesetzt? Wann werde ich mir ein Auto leisten können?

Viele Fragen und Zweifel, nicht selten auch Enttäuschung und Frustration klingen aus den Zitaten der ausländischen Arbeitnehmer. Aber auch Stolz „auf das Erreichte“ lässt sich heraushören. (mz)


(c) Ulrike Rustemeyer

Nermin Özdil (62) kam 1973 aus der Türkei: „Während mein Kollege, ein junger Italiener, 100 Hosen legte, schaffte ich in der gleichen Zeit 300 Hosen. Er bekam aber 10,50 DM und ich nur 8,50 DM pro Stunde. Der junge Italiener bekam also 2 DM mehr als ich pro Stunde. ‚Warum ist das so?‘, fragte ich den Meister. Aber er zuckte nur die Achseln. ‚Ja, so sind halt die Gesetze‘, sagte er, ‚die Männer kriegen mehr.‘ - Und dabei wusste er genau, dass ich viel mehr produzierte als die Männer, deshalb wollte er auch immer, dass ich länger dableibe und länger arbeite. Aber ich wollte nicht. Warum soll ich länger arbeiten als die anderen, wenn ich weniger verdienen? Verstehen sie, warum das so ist? Ich habe das nie verstanden?“


(c) Ulrike Rustemeyer

Nikolaj Kuzelev (19) kam 2001 aus Kasachstan: „Ich verstehe das nicht: Wenn du von Russland nach Deutschland kommst, sind deine Abschlüsse und Zeugnisse plötzlich nichts mehr wert. Dabei ist die Ausbildung in manchen Berufen in Russland sogar besser. Und umgekehrt, wenn du von Deutschland nach Russland gehst, wirst du wie ein König behandelt. ‘Da kommt ein deutscher Spezialist‘, heißt es dann. Wieso sagt man in Deutschland nicht: ‚Da kommt ein Spezialist aus Russland‘? Das ist einfach komisch.“

Alfonso Fernandez-Garcia kam in den 1960er-Jahren aus Spanien: „Nein, das war nicht aus eigenem Willen, sondern man wurde eingetragen. So wie die Nachfrage an Arbeitsplätzen gerade war. Und so hat jeder etwas bekommen, ohne zu wissen, wohin und was für eine Arbeit das war. Und einmal war ein Arbeitsplatz für die Bundesbahn, das klang sehr verlockend. Da träumte ich gleich vom Lokführer und so. Da wusste ich nicht, dass ich nur als einfacher Arbeiter kommen werde.“


(c) Ulrike Rustemeyer

Behcet Algan (52) kam 1979 aus der Türkei: „Als ich in Deutschland ankam, sagte ein merkwürdiges Gesetz: Aufenthalt bekommen wir, aber eine Arbeitserlaubnis bekommen wir nicht. Das war für mich damals sehr hart, denn ich war damals so 26, 27, und da wollte ich doch beweisen, dass ich was kann, ich wollte arbeiten. Und wenn dann einer so wie ich aktiv sein möchte und ohne Arbeit ist, das macht seelisch kaputt. Ich versuchte alles, ich schrieb sogar an den damaligen Bürgermeister, aber ich hatte keine Chance... Heute ist meine Arbeit Routine, aber ich mache sie immer noch jeden Tag gerne. In meinem Frisörsalon trifft sich die Welt, es kommen Franzosen, Amerikaner, Kanadier, Australier, Araber oder Afrikaner. Das bedeutet mit sehr, sehr viel. Mit allen diesen Menschen habe ich Kontakt.“


(c) Ulrike Rustemeyer

Erdem Dilsen (74) kam 1957 aus der Türkei: „Früher fuhr ich die tollsten Autos, aber das ist mir heute nicht mehr wichtig. Ich fahre jetzt einen ganz normalen VW Golf und meine Freunde wundern sich: ‚Erdem Abi, wieso fährst du einen Golf?‘ - Ich zucke nur mit den Achseln: ‚Ich habe ja schon vor 45 Jahren einen Porsche gefahren.‘ - Früher war ich anders. Wenn ein Freund zu mir sagte: ‚Erdem Abi, du hast ja überhaupt keinen Videorecorder‘, dann glaubte ich, weil ich Erdem Abi war, müsste ich mir jetzt einen Videorecorder kaufen. Dabei benutze ich ihn nie. Ich musste ja sagen können: ‚Erdem Abi hat einen Videorecorder.‘“


(c) Ulrike Rustemeyer

Viktor Petri (55) kam 1996 aus Russland: „Meine Frau fühlt sich diskriminiert. Trotz zahlreicher Sprachkurse ist es ihr immer noch nicht gelungen, einen Arbeitsplatz zu finden, der ihrer Qualifikation entspricht. Sie ist Energieingenieurin und machte ein Praktikum als Möbelverkäuferin. Als geringfügig Beschäftigte arbeitet sie zurzeit in einer Apotheke. Das ist besser, als zu Hause zu sitzen, aber nichts, was sie befriedigt.“


(c) Ulrike Rustemeyer

Hadiye Akin (57) kam 1969 aus der Türkei: „Das Geld war am Anfang immer knapp. Mein Mann verdiente 1.200 Mark im Monat und wir schickten davon 50 Mark am meine Mutter und 50 an seinen Vater nach Hause in die Türkei. Wenn wir mal neue Möbel kaufen wollten, reichte es hinten und vorne nicht. Deshalb wollte ich möglichst schnell arbeiten. Aber mein Mann sagte: ‚Du bist Lehrerin. Wenn du hier arbeiten willst, kannst du nur als Putzfrau arbeiten. Du verstehst ja die Sprache nicht.‘ – ‚Dann muss ich eben möglichst schnell in einen Deutschkurs gehen‘, antwortete ich... Ich hatte ein riesiges Tagespensum zu erledigen: die Arbeit, den Haushalt, die Kurse am Goethe-Institut, Hausaufgabenhilfe bei meinen Kindern, Elternabende. Ich arbeitete damals sehr viel, Theaterkurse und Folklorekurse gab ich auch noch. Und ich war glücklich dabei... Ich war 25 Jahre an derselben Schule und ich wünschte, ich könnte noch 30 Jahre weiter arbeiten. Aber schließlich musste ich schweren Herzens in Rente gehen.“


(c) Ulrike Rustemeyer

Cengiz Yagli (49) kam 1976 aus der Türkei: „Ich fing mit Sozialpädagogik an, was meine Frau später dann auch machte. Parallel begann ich beim Roten Kreuz als Betreuer zu arbeiten und meine Frau sagte: ‚Eigentlich ist Sozialarbeit für dich der maßgeschneiderte Beruf.‘ - Nach meinem Diplom bekam ich 1985 eine Stelle als Sozialberater bei der AWO. Allerdings sah ich diese Tätigkeit lange nicht als Arbeit an, weil alles, worum es dabei ging, in der Türkei selbstverständliche Familienaufgaben waren.“

Le Trung Kha, Vietnamese, verbrachte seine Schulzeit in der DDR. Heute arbeitet er im deutsch-vietnamesischen Rückkehrerprogramm, das den ehemaligen Vertragsarbeitern aus Ostdeutschland mit Krediten und Umschulungen die Wiedereingliederung erleichtern soll. 6.000 Vietnamesen haben in der DDR ein Studium beendet, 15.000 eine Facharbeiterausbildung. „Das waren fast 200.000, die irgendwann einmal bei euch waren.“ Ein fast einzigartiges „Kapital“ hat sich da über Jahrzehnte angehäuft, nicht allein in barer Münze, sondern in Sprachkenntnissen, Lebenserfahrungen, Kontakten. Allein in Deutschland, so scheint es vielen in Vietnam, weiß man davon nichts. Oder man hat es schlicht vergessen. „Ihr macht einfach zu wenig aus unserer Freundschaft“, bedauert Herr Kha. „Dabei seid ihr Deutschen so beliebt.“


Literaturtipp

Viele Zitate der Schwerpunkt-Seiten (Arbeit, Heimat, Familie, Kultur, Zusammenleben, Bildung / Zukunft) stammen aus zwei Publikationen der Körber-Stiftung (www.edition-koerber-stiftung.de). Sehr anschaulich werden Biografien von Migranten präsentiert, die den Leser in Lebenswelten unterschiedlicher Träume, Enttäuschungen und Erfahrungen eintauchen lassen.

Michael Richter
gekommen und geblieben,
Deutsch-türkische 
Lebensgeschichten
mit einer Einführung von Dilek Zaptçioglu, 280 S. mit 56 s/w-Abbildungen
ISBN 3-89684-048-7
Euro 14,–

Dorothee Wierling (Hrsg.)
Heimat finden
Lebenswege von Deutschen, die aus Russland kommen
280 Seiten mit 54 s/w-Abbildungen
ISBN 3-89684-043-6
Euro 14,–

Darüber hinaus sind einzelne Zitate dem Interkulturellen Stadtführer Gelsenkirchens entnommen (Gelsenkirchen - eine Stadt mit vielen Kulturen. Ein interkultureller Stadtführer, erstellt von Patricia Ferdinand-Ude, 2002). Auch diese - mittlerweile vergriffene - Publikation stellt Migrantenbiografien in sehr anschaulicher Art und Weise dar.

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Migration und Politik in der Weimarer Republik

 

Das mit dem Ende des 1. Weltkriegs entwickelte demokratische Deutschland war keine offene Republik. Migration galt in politischer Debatte und publizistischer Diskussion als Bedrohung und Belastung. Zuwanderung wurde in der Weimarer Republik zunehmend stärker kontrolliert und reguliert, eine protektionistische Wanderungspolitik suchte Auswanderung und Zuwanderung einzudämmen. Dr. Jochen Oltmer, Professor für Neueste Geschichte am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück, bietet in seiner Mitte 2005 erschienenen Publikation "Migration und Politik in der Weimarer Republik" erstmals einen fundierten Überblick über diese Zeit. Anhand der Untersuchung zentraler Zuwanderungsbewegungen erarbeitet er einen Überblick über die Entwicklung von Migration, Integration und Wanderungspolitik zwischen 1918 und 1933. Mit dem Rückblick auf die Geschichte von Migration und Politik in der Weimarer Republik verdeutlicht die 564-seitige Studie historische Bestimmungsfaktoren und Entwicklungslinien in der aktuellen Debatte um die Zukunft des Einwanderungslandes Deutschland. Die beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienene Studie mit 12 Abbildungen und 18 Tabellen kostet 49,90 Euro. (esf)

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Gastarbeiter erzählen ihre Geschichte

 

Ehemalige Gastarbeiter mal selbst zu Wort kommen lassen. Ihnen die Möglichkeit geben, mit ihren Erfahrungen der "Erinnerungskultur" einen persönlichen Stempel aufzudrücken. Dies ist das Anliegen des Herausgebers Hasan Cil mit seinem Buch "Anfänge einer Epoche", 2003 erschienen im Verlag Hans Schiler. In diesem zweisprachigen Buch werden die persönlichen Geschichten von mehreren Frauen und Männern widergegeben; ein Stück Zeitgeschichte wird festgehalten.

Bisher scheint es, als ob die Erinnerung der Gastarbeiter eher dem Vergessen überlassen bleibt. Hasan Cil nennt es "die Tabuisierung der Anwerbung", die die Vorgehensweise bei der Anwerbung verdecken soll. "Diese Menschen wurden in Gruppen untersucht, selektiert und in ihrem Schamgefühl verletzt", erklärt Cil. Geschwiegen wird auch heute noch. Die ersten Gastarbeiter tragen jedoch zu diesem Schweigen selbst bei, weil ihnen vieles immer noch peinlich ist. Aber das größte Hindernis war das sprachliche Problem, über diese Epoche der Anwerbung zu sprechen und in Debatten einbringen zu können.

"Dieses Sich-Nicht-Erinnern geht auf die sozial bedingte Natur der Anfänge der (Arbeits-) Migration in die Bundesrepublik zurück. "Betrachtet man diese Anfänge aus der Perspektive des Gegenwärtigen, muten sie fremd und unvertraut an," so eine weitere Erklärung im Vorwort des Buches. Selbst in den Staatsarchiven der Türkei konnte der Soziologe Hasan Cil während seiner Recherchen über die türkische Anwerbung nichts vorfinden. "Es ist schlicht nichts aufbewahrt worden, obwohl die Anwerbung dieser Menschen weit reichende Folgen mit sich brachte", so Cil.

Doch die Gastarbeiter lediglich als Opfer bzw. Verlierer darzustellen, würde den wirklichen Tatsachen nicht entsprechen. So weist Hasan Cil darauf hin, "dass die Zuwanderung nach Deutschland für die Ausgewanderten aus der Türkei eine extreme Umstellung in kultureller, religiöser und sprachlicher Hinsicht mitbrachte und diese mehr oder weniger erfolgreiche Bewältigung als eine Meisterleistung angesehen werden muss." Mit diesem Buch wird ihr Mut zur Auswanderung in ein für sie fremdes Land gewürdigt. Ende des Jahres erscheint von Hasan Cil das zweite Buch "Ende einer Epoche", das die Geschichte über die Gastarbeiter in Deutschland abschließt.

Ali Sirin

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Literaturtipps zum Thema

 

  • Amt für multikulturelle Angelegenheiten Frankfurt am Main (Hg.): "Mit Koffern voller Träume...", Frankfurt/Main 2001

  • Bade, Klaus J.: Homo Migrans: Wanderungen aus und nach Deutschland, Essen 1994

  • Bade, Klaus J./ Oltmer, Jochen (Hg.): Aussiedler: deutsche Einwanderer aus Osteuropa, Osnabrück 1999

  • Cil, Hasan (Hg.): Anfänge einer Epoche, Verlag Hans Schiler, Berlin 2003

  • Domit (Hg.): 40 Jahre Fremde Heimat : Yaban, Silan olur ; Einwanderung aus der Türkei in Köln, Köln 2001

  • Gieler, Wolfgang/ Ehlers, Torben: Von der Anwerbung zur Abschottung oder zur gesteuerten Zuwanderung? Grundlagen deutscher Ausländerpolitik, Ulm 2002

  • Herbert, Ulrich: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland : Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001

  • Meier-Braun, Karl-Heinz: Deutschland, Einwanderungsland, Frankfurt/Main 2002

  • Meier-Braun, Karl-Heinz/ Weber, Reinhold: Kulturelle Vielfalt. Baden-Württemberg als Einwanderungsland, Stuttgart 2004

  • Richter, Michael: gekommen und geblieben. Deutsch-türkische Lebensgeschichten, Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2003

  • Stadt Gelsenkirchen (Hg.): Gelsenkirchen - eine Stadt mit vielen Kulturen. Ein interkultureller Stadtführer, erstellt von Patricia Ferdinand-Ude, Gelsenkirchen 2002

  • Weber, Horst: eingewandert. Geschichte und Lebenssituation von ArbeitsmigrantInnen in Braunschweig, Braunschweig 1993

  • Wierling, Dorothee (Hg.): Heimat finden. Lebenswege von Deutschen, die aus Russland kommen, Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2004

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