Integration in Deutschland 3/2005, 21.Jg., 20. September 2005

ZUSAMMENLEBEN

"Jeder hat ein Bild vom anderen"

 

Durch die Zuwanderung hat sich Deutschland gesellschaftlich vielleicht ähnlich stark gewandelt, wie durch die Industrialisierung. Wie hat die deutsche Mehrheitsgesellschaft auf den zunehmenden Zuzug von Migranten reagiert? Welche Fremdheitserfahrungen hat man gemacht? Wie wurde Fremdheit empfunden? Gab es da einen Wandel im Zeitablauf? Welche Rolle spielen die Medien in der Anerkennung der Realität einer Einwanderungsgesellschaft? (esf)

Rosel Cottone (64), Witwe von Pascuale Cottone, der 1957 aus Italien kam: "Wenn meine Töchter früher Schulfreundinnen zu uns nach Hause einluden, wurde der Besuch oft kurz vorher von Seiten der Eltern wieder abgesagt, ohne Grund. Ich weiß nicht, was die Leute sich dabei gedacht haben, schließlich haben wir ja keinen gefressen! Das war für die Kinder schon nicht so schön. Irgendwie scheinen immer nur die Deutschen Probleme mit Ausländern zu haben: Wenn ich als Deutsche, zum Teil auch mit deutschen Freunden, in Sizilien war, wurden wir immer unglaublich herzlich aufgenommen."


(c) Ulrike Rustemeyer

Cengiz Yagli (49) kam 1976 aus der Türkei: "Heute haben alle mit Ausländern zu tun: beim Einkaufen, in der Nachbarschaft, im Sport, im Theater, im Kino, auf Reisen, im Restaurant - egal, wo man sich bewegt. Damals war es anders. Wenn wir, meine deutsche Frau und ich, nicht kämpferisch gewesen wären, dann hätten wir uns niemals durchsetzen können. Wenn wir in den Augen meiner Schwiegereltern versagt hätten, wäre die Distanz sogar noch größer geworden - das ist eben die Regel hier. Man muss als Ausländer doppelt so viel tun wie Einheimische, um akzeptiert zu werden, man muss mehr können, die Wege öffnen und sich Respekt verschaffen. Bis heute gibt man ein Amt noch lieber einem Deutschen als einem Türken."

Lisa Schäfer (24), Lehramtsstudentin: "Es treffen hier verschiedene Kulturen aufeinander, jeder hat ein Bild vom anderen - Wie gehe ich damit um? Welches Bild hat er von mir, ich von ihm? Statt sich von anderen Kulturen das Beste rauszusuchen, ist die deutsche Mentalität eher, Assimilierung zu fordern - ‚Kopftuch ab!' zum Beispiel. In Kanada macht man das ganz anders. Man fördert ganz gezielt auch Kulturvereine. Toleranz ist gut, aber es sollte nicht gegen die im Land gültigen Gesetze verstoßen werden. Beim Thema Schächten und Tierschutz zum Beispiel."


(c) Ulrike Rustemeyer

Viktor Petri (55), kam 1996 aus Russland: "Nie habe ich das Gefühl, dass mich die Kollegen als einzigen Russlanddeutschen in der Abteilung anders behandeln. Ich spüre überhaupt keinen Unterschied, was die Nationalität betrifft. Das ist immer wieder ein sehr schönes Gefühl. Meiner Frau geht es weniger gut. Sie, als Russin, und unser Sohn, der als Minderjähriger noch keinen eigenen Pass mit dem Eintrag >deutsch< hatte, erhielten einen anderen, schlechteren Rechtsstatus. Damit verbunden war, dass sie weniger Eingliederungshilfen erhielten. Für meine Frau war das dramatisch und ist es noch immer."


(c) Ulrike Rustemeyer

Hadiye Akin (57) kam 1969 aus der Türkei: "Ich habe mit den Deutschen generell gute Erfahrungen gemacht, sei es in der Nachbarschaft, im Kollegium oder auch auf Ämtern. Mit deutschen Behörden hatte ich überhaupt keine Negativerlebnisse, sie waren immer sehr hilfsbereit."


(c) Ulrike Rustemeyer

Erdem Dilsen (74) kam 1957 aus der Türkei: "Hier in Uhlenhorst kennen mich alle mit Namen. Wenn ich nicht morgens pünktlich meine Zeitung hole, sorgt sich der Kioskbesitzer und fragt sich, ob ich krank bin. Sie wissen, wann ich zu meinem Sohn fliege und wann ich wieder zurück bin. Ich denke, daran kann man sehen, dass ein herzliches Zusammenleben zwischen Deutschen und Türken möglich ist. An der heutigen Fremdheit zwischen Deutschen und Türken sind beide schuld. Mit meinem gebrochenem Deutsch habe ich dennoch immer Kontakt aufgenommen. Wenn ich spazieren gehe, spreche ich auch mit den Kindern auf der Straße, und die Mütter sind gerührt. Wenn man Kontakt aufbaut, wächst auch das Verständnis füreinander... Von der deutschen Seite kommt immer, die Türken müssten besser Deutsch lernen. Für die erste Generation ist das eine Zumutung, das kann man nicht mehr erwarten, ein 60-jähriger Mann schafft das nicht mehr. Die Deutschen dürfen die jüngeren Generationen nicht als Ausländer wahrnehmen, denn sie fühlen sich an erster Stelle als Deutsche. Sie vergessen aber nicht, dass sie türkischer Abstammung sind, und das muss respektiert werden. In 20, 30 Jahren wird es einen türkischstämmigen Bundeskanzler geben."

Gordana Leibold (35), kam 1981 aus Bosnien-Herzegowina: "Was mich als Einziges stört: Egal wohin man bei Behördengängen geht - um sein Auto anzumelden, einen Kredit zu beantragen oder beim Arbeitslosengeld -, immer muß man eine Wohnmeldebescheinigung erbringen. Immer neu, weil sie nur kurz gilt. Dafür muß man jedesmal zum Einwohnermeldeamt. Es wäre schön, wenn man einen Ausweisersatz bekäme, zum Reisepass dazu, der einem diese Gänge ersparen würde."

Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun (54), Leiter der Redaktion SWR International: "Politik, Gesellschaft und Medien haben viel zu lange mit der Lebenslüge gelebt, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Erst in den letzten Jahren sind sie aufgewacht. Manche schlafen aber immer noch. Und in Wahlkämpfen besteht weiterhin die Gefahr, dass das Thema "totgetrampelt" wird. Erstaunlicherweise ist die viel diskutierte Integration der Migranten aber viel besser gelungen, als es immer wieder schlecht geredet wird. Mit dem Zuwanderungsgesetz hat Deutschland endlich die Möglichkeit geschaffen, Einwanderung und Integration positiv zu gestalten."

Memet Kilic (38) kam 1990 aus der Türkei: "Die Bilder und Schlagzeilen in den Medien sind oft wenig positiv, bedienen oft Klischees, Hintergrundinformationen über Migranten fehlen in Artikeln oder Fernseh- und Radiobeiträgen häufig. Dabei sind genau diese Informationen wichtig, damit Leser ein realistisches Bild von Migranten und deren Nachkommen bekommen."

Sinan Orhan: "Die Integrationsarbeit der kleinen Schritte von Organisationen und ehrenamtlich engagierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern vor Ort leidet unter bundesweiten und oft emotional durchgeführten Diskussionen. Genau diese Art von Integrationsleistungen der kleinen Schritte müssen mehr Anerkennungen und Zuspruch bekommen."

Deniz-Nesat Kiyanc (19) kam 2000 als Asylbewerber aus dem Osten der Türkei: Ich wünsche mir einen besseren Umgang von verschiedenen Behörden gegenüber den Flüchtlingen."


Literaturtipp

Viele Zitate der Schwerpunkt-Seiten (Arbeit, Heimat, Familie, Kultur, Zusammenleben, Bildung / Zukunft) stammen aus zwei Publikationen der Körber-Stiftung (www.edition-koerber-stiftung.de). Sehr anschaulich werden Biografien von Migranten präsentiert, die den Leser in Lebenswelten unterschiedlicher Träume, Enttäuschungen und Erfahrungen eintauchen lassen.

Michael Richter
gekommen und geblieben,
Deutsch-türkische 
Lebensgeschichten
mit einer Einführung von Dilek Zaptçioglu, 280 S. mit 56 s/w-Abbildungen
ISBN 3-89684-048-7
Euro 14,–

Dorothee Wierling (Hrsg.)
Heimat finden
Lebenswege von Deutschen, die aus Russland kommen
280 Seiten mit 54 s/w-Abbildungen
ISBN 3-89684-043-6
Euro 14,–

Darüber hinaus sind einzelne Zitate dem Interkulturellen Stadtführer Gelsenkirchens entnommen (Gelsenkirchen - eine Stadt mit vielen Kulturen. Ein interkultureller Stadtführer, erstellt von Patricia Ferdinand-Ude, 2002). Auch diese - mittlerweile vergriffene - Publikation stellt Migrantenbiografien in sehr anschaulicher Art und Weise dar.

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