Integration in Deutschland 3/2005, 21.Jg., 20. September 2005

KULTUR

"Früher war ich traditioneller"

 

Vielleicht ist das am schwierigsten für Migranten jeglicher Herkunft: Das Realisieren, dass der eigene kulturelle Hintergrund andere befremdet - während umgekehrt das eigene Befremden angesichts anderer kultureller Werte und Traditionen nicht wirklich interessiert. Zugleich wird von einem jedoch - oft ungesagt - Anpassung erwartet. Wie gehen Migranten mit dem Gegensatz Eigenkultur-Fremdkultur um? Welche Entwicklungen zeigen sich? Was lässt sich voneinander lernen? (esf)


(c) Ulrike Rustemeyer

Cengiz Yagli (49), geboren in der Türkei, kam 1976 nach Deutschland: "Wir haben unsere Kinder dazu erzogen, Gemeinsamkeiten statt Unterschiede zu suchen. Es gibt schon genug Unterschiede, aber wenn wir zusammen sind, geht es um Gemeinsamkeiten. Viele andere Menschen gehen immer wieder von Unterschieden aus: Du bist Christ oder Jude, ich bin Moslem, du bist blond, ich bin schwarz - nein, weswegen sind wir denn auf der Erde? Wir brauchen Freundschaft, Vertrauen, Unternehmungslust und friedliches Miteinander. Wenn wir das wollen, dann kommen wir auch weiter miteinander - so haben wir auch unsere Kinder erzogen."


(c) Ulrike Rustemeyer

Nikolaj Kuzelev (19), geboren in Kasachstan, kam 2001 nach Deutschland: "Bei uns in der Schule gibt es eine Menge Russen. Aber das Verrückte ist: Viele von denen können die Sprache überhaupt nicht mehr. Die waren oft erst ein oder zwei Jahre alt, als sie mit ihren Eltern hierher gekommen sind. Und die Eltern meinten, sie brauchen hier kein Russisch, sie sollen erst einmal Deutsch lernen. Und so haben sie Deutsch gelernt und das Russische vergessen. Ich finde es schade, das ist doch auch ein Stück unserer Kultur."


(c) Ulrike Rustemeyer

Hadiye Akin (57), geboren in der Türkei, kam 1969 nach Deutschland: "Religion gehört zu den kulturellen Werten, die man in der Familie unbedingt weitergeben sollte. So wie ich es auch wichtig finde, dass man immer die Älteren besuchen soll oder sich gegenseitig hilft. Das sind türkische Traditionen, die unbedingt bewahrt werden müssen. Dazu gehört auch, nicht zu lügen und den Armen in der Familie zu helfen. Meinen Söhnen sage ich immer: ‚Wenn ich mal tot bin, müsst ihr immer füreinander da sein.'"

Jutta, geboren in Österreich: "Das Miteinander der Kulturen ist mir ein großes Anliegen. Alle Kinder sollen schon früh fremde Sitten und Gebräuche kennen lernen, um respektvoll und einfühlsam denken und handeln zu können. Und das ist für mich etwas Ur-Salzburgisches. Das verbindende Element, so glaube ich, ist die Phantasie und Sensibilität füreinander."


(c) Ulrike Rustemeyer

Behcet Algan (52), geboren in der Türkei, kam 1979 nach Deutschland: "An Sitten wie Ramadan habe ich mich nie gehalten und das werde ich mir auch nicht mehr angewöhnen. Wenn irgendwo ein Sündenregister geführt wird, dann ist meines schon lange voll. Trotzdem glaube ich auf meine Art an Gott. Früher war ich traditioneller, da war meine Religion für ich die erste und beste. Aber als ich hier die ganzen Leute kennen lernte - Afrikaner, Russen oder Amerikaner, hat sich bei mir etwas verändert. Ich habe mir gesagt: Egal, ob einer Christ ist oder Buddhist oder Muslim, ob er schwarze Haut hat oder weiße, das spielt überhaupt keine Rolle. Vielleicht hat Hamburg meine Einstellung da geprägt. Deswegen bin ich besonders froh, hierher gekommen zu sein: Hier habe ich die Welt kennen gelernt. Ich habe hier natürlich auch viele andere Dinge gelernt. Zum Beispiel die deutsche Form von Disziplin. Das hat mir im Geschäftsleben viel gebracht. In der Türkei melden sich die Kunden an und sagen, sie kommen am Vormittag. Und keiner wusste genau, wann. Wenn ich jetzt in der Türkei bin, frage ich: ‚Wann kommst du, Ahmet?' - ‚Am Nachmittag.' - ‚Ja, wann am Nachmittag? Sag mal eine Uhrzeit.' - Dann kommt sofort die Antwort: ‚Du bist wohl ein Deutscher geworden.' Aber so genau wie manche Deutsche nehme ich es doch nicht. Vor drei Wochen hatte ich um elf Uhr vormittags einen Termin. Zwanzig vor elf fuhr ich los. Der Verkehr war so schlimm, dass ich erst um Viertel nach elf da war. Als ich ankam, hieß es: ‚Herr Algan, jetzt können wir nicht mehr miteinander reden. Sie sind fünfzehn Minuten zu spät.' - Das finde ich wirklich übertrieben. Natürlich, besser wäre es, pünktlich zu sein. Aber wie soll ich denn hinkommen? Ich kann ja nicht fliegen... Es gibt ein Sprichwort: Wer nicht kräftig ist, den schlagen alle. Deswegen bleiben Ausländer hier immer noch Ausländer. Die Welt gehört doch allen Menschen. Jeder muss selbst entscheiden können, wo er leben will, wenn er sauber bleibt und fleißig ist in seinem Beruf. 

Wenn wir so denken, können wir überall zusammenleben, das müssen wir noch lernen. Durch Menschen wie Willy Brandt oder Helmut Schmidt hatte ich Deutschland schon in der Türkei in meinem Kopf, es war meine zweite Heimat - politisch. Wegen Willy Brandt habe ich immer gedacht, die Deutschen sind unsere Verwandten. Sportlich gesehen, also beim Fußball, war das Franz Beckenbauer oder Gerd Müller. Wenn wir in der Türkei Fußball schauten, waren wir immer für Deutschland."

Khaled Al-Maaly (49), kam 1979 aus dem Irak: "Unser Hauptproblem ist die Zensur. In einigen Ländern, z.B. in Kuwait, sind 90 Prozent unserer Bücher verboten. Und jedes Land hat andere Tabu-Themen: im Libanon sind es Bücher über den Krieg, in Jordanien islamische Mystik, und immer suspekt sind unsere Bücher über Erotik und Sexualität. In Deutschland bin ich frei, meine Bücher zu machen. Es gibt keine Zensur."


(c) Ulrike Rustemeyer

Sophie Wagner (52), kam 1994 aus Kasachstan: "Alle aus der Familie waren immer wieder damit konfrontiert, für Russen, für Ausländer gehalten zu werden. Damit konnten wir nur schwer umgehen. Als wir in unsere erste Wohnung zogen, gab es einen Nachbarn, der uns wohl gar keine Sprachkenntnisse zutraute. In ziemlich erniedrigender Form redete er in gebrochenem Deutsch auf uns ein: ‚Du verstehen?' Das war beklemmend. Am Anfang war das Leben in Deutschland anstrengend und immer wieder verwirrend. Allein das Fernsehprogramm. So viele Sender, so viel Sex... Was modern und unmodern ist, wie Dinge gehandhabt werden, wie man sich zu verhalten hat, für alle von uns gab es viele, viele Bewährungsproben, das war oft sehr schwer."

Semiran Kaya (39), kam 1973 aus dem Osten der Türkei: "Ich finde es sehr bedauerlich, dass viele Türken und Kurden hier so wenig Interesse an Kultur haben. Sie bringen Theater, Zeitungen oder Musik wenig Wertschätzung entgegen. Warum schaffen wir es nicht, eine gute Kulturzeitschrift herauszugeben, wie das zum Beispiel die russischsprachigen Zuwanderer machen? Es gibt doch genug türkische und kurdische Kulturschaffende hier. So verbindet man uns in der Öffentlichkeit nur mit Problemen und Politik. Das Einzige, was kulturell wahrgenommen wird, ist Folklore."

Nasrin Behjou, kam 1985 aus dem Iran: "Ich bin sehr enttäuscht vom fehlenden Interesse der Deutschen an den Belangen und dem Kulturleben der Migranten. Und es ist enttäuschend, wie wenig Kontakt die einzelnen Migrantengruppen untereinander haben."


Literaturtipp

Viele Zitate der Schwerpunkt-Seiten (Arbeit, Heimat, Familie, Kultur, Zusammenleben, Bildung / Zukunft) stammen aus zwei Publikationen der Körber-Stiftung (www.edition-koerber-stiftung.de). Sehr anschaulich werden Biografien von Migranten präsentiert, die den Leser in Lebenswelten unterschiedlicher Träume, Enttäuschungen und Erfahrungen eintauchen lassen.

Michael Richter
gekommen und geblieben,
Deutsch-türkische 
Lebensgeschichten
mit einer Einführung von Dilek Zaptçioglu, 280 S. mit 56 s/w-Abbildungen
ISBN 3-89684-048-7
Euro 14,–

Dorothee Wierling (Hrsg.)
Heimat finden
Lebenswege von Deutschen, die aus Russland kommen
280 Seiten mit 54 s/w-Abbildungen
ISBN 3-89684-043-6
Euro 14,–

Darüber hinaus sind einzelne Zitate dem Interkulturellen Stadtführer Gelsenkirchens entnommen (Gelsenkirchen - eine Stadt mit vielen Kulturen. Ein interkultureller Stadtführer, erstellt von Patricia Ferdinand-Ude, 2002). Auch diese - mittlerweile vergriffene - Publikation stellt Migrantenbiografien in sehr anschaulicher Art und Weise dar.

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