Integration in Deutschland
3/2005, 21.Jg., 20. September 2005
HEIMAT |
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"Je mehr Zeit verstrich..." |
Die Zuwanderer der ersten Generation, die ihre Heimat verließen, um in Deutschland zu arbeiten und Geld zu verdienen, planten ihren Aufenthalt in der Fremde oftmals nur für einen begrenzten Zeitraum. Doch viele leben nun schon 30, 40 Jahre hier. Sie fühlen sich mittlerweile "angekommen" in Deutschland, haben sich von ihrer früheren Heimat entfremdet. Andere Zuwanderer, insbesondere jene, die noch nicht so lange in Deutschland leben, fühlen sich mit ihrem Herkunftsland eng verbunden und suchen noch nach ihrem Platz in der deutschen Gesellschaft. Was heißt es eigentlich, sich heimisch zu fühlen? Was ist Heimat? Ist es die Stadt, in der man sich wohl fühlt? Ist es der Ort, wo Freunde und Familie leben? (vf) |
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Hadiye Akin (57), kam 1969 aus der Türkei: "Wir wohnten in einer Einzimmerwohnung... Mein Mann hatte mich schon vorgewarnt: ‚Wir haben gar nichts. Meine Möbel habe ich auf der Straße gefunden...' - Ich dachte, mich könnte nichts schockieren. Aber ich hatte ja auch eine völlig andere Vorstellung im Kopf: Deutschland - das war für mich eine ganz neue, reiche Welt! Schließlich kamen immer alle mit Radios, Hüten und Kleidern und viel Geld aus Deutschland - nein, da konnte man gar nicht arm sein. Ich hätte nie geglaubt, dass es da so aussehen könnte wie in unserer Wohnung: ein Bett, ein Esstisch und eine Waschmaschine in der Küche - alles gebrauchte Möbel. Die Wohnung hatte weder Bad noch Toilette, es gab nur eine Gemeinschaftstoilette auf dem Hausflur... Mein Mann plante ursprünglich, nur drei Jahre in Deutschland zu bleiben. Er wollte ein paar Jahre in Deutschland arbeiten und dann von dem Geld eine Wohnung oder ein Haus in der Türkei kaufen. Aber dann kamen die Kinder. Und spätestens, wenn die Kinder in der Schule sind, kann man eine Rückkehr vergessen... So sind es jetzt 30 Jahre geworden. Als ich meinen Beruf aufgenommen hatte, fühlte ich keine Sehnsucht mehr nach der Türkei. Für mich war es dasselbe, in Hamburg, in Istanbul oder in Bursa zu arbeiten... Hamburg erinnert mich immer ein wenig an Istanbul. Als ich vom Altonaer Rathaus auf die Elbe blickte, dachte ich: Das ist Istanbul! Blankenese hat auch etwas vom Bosporus. Ich komme ja auch vom Wasser und liebe die Elbe." |
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Erdem Dilsen (74), kam 1959 aus der
Türkei: "In dem Maße, in dem die jüngeren Generationen sich hier
integriert haben, entfremden sie sich etwas von der Türkei. Sie werden den
Deutschen immer ähnlicher. Früher haben sie in Antalya oder in Bodrum ein
Haus gekauft. Das geschieht heute nicht mehr so oft. Wenn heute einer sagt:
‚Ich möchte in Istanbul ein Haus oder eine Wohnung kaufen!', zeigen ihm
seine Freunde den Vogel: ‚Kauf doch lieber in Pinneberg'. So verändern
sich die Einstellungen. |
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Behcet Algan (52), kam 1979 aus der Türkei: "Eigentlich war unser Aufenthalt hier nur für fünf oder sechs Jahre geplant... Dann aber kamen die Kinder hier in die Schule. Sie einfach rauszunehmen war auch schwer. Daher entschieden wir uns, so lange zu bleiben, wie die Kinder in die Schule gehen. Aber bei drei Kindern ist das so eine Sache, irgendwie geht immer eines zur Schule. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr entfernte sich auch die Türkei von uns. Auch alte Freunde entfernten sich Stück für Stück, sie wurden fremder und die Wege trennten sich. Hier war es natürlich anders. Altona wurde immer mehr zu unserem Hauptdorf. Heute ist meine Heimat zu 51 Prozent in Deutschland und zu 49 Prozent drüben, wenn ich ganz offen bin." |
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Nikolaj Kuzelev (19), kam 2001 aus Kasachstan: "Ich denke, ich bleibe für immer Russe. Nicht Deutscher, nicht Deutschrusse, sondern Russe. Ich meine, ich habe eigentlich gar nichts zu tun mit Deutschland. Manchmal habe ich richtig Heimweh nach Kasachstan. Weil da immer noch viele von meinen Freunden wohnen, mit denen ich zehn Jahre und länger zusammen war. Das ist einfach eine sehr, sehr lange Zeit. Ich weiß nicht, ich fühle mich so, als ob das immer noch meine Heimat ist und nicht Deutschland." |
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Choukri aus Marokko: "In dem Moment, als ich die Nabelschnur meiner ersten Tochter im Kreissaal durchtrennte, habe ich mich für die Ewigkeit mit dieser Stadt verbunden. Ich bin Gelsenkirchener geworden... Freunde und Familie schaffen ein zu Hause." |
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Maria Kessler (29), kam 1980 aus der UdSSR: "Ich bin stolz darauf, aus Russland zu kommen, und ich bin stolz darauf, in Deutschland zu leben und zu arbeiten. Abfällige Äußerungen über Russen treffen mich sehr, aber es trifft mich nicht weniger, wenn man Deutschland und Deutsche beleidigt. Das sagt natürlich auch viel darüber aus, was ich unter Heimat verstehe. Das ist für mich der Geburtsort und der Ort, an dem ich meine Kindheit verbracht habe, an dem ich meine Anlagen mitbekommen habe, an dem ich von der Gesellschaft und der Kultur geprägt worden bin. Meine Heimat ist Russland. Und dann gibt es natürlich den Ort, an dem man zu Hause ist, wo man lebt und seinen Hut hinhängt, sozusagen. Das ist jetzt meine eigene Wohnung in F... Aber das kann genauso morgen Spanien werden, wenn ich mich zum Beispiel beruflich oder privat dorthin begebe." |
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Ömer, kam 1982 aus der Türkei: "Ich bin kein Deutscher, ich bin Gelsenkirchener. Ich habe viele süße und schmerzliche Momente hier erlebt. Wenn ich im Ausland ein Auto mit dem Kennzeichen "GE" sehe, flattert mein Herz. Wir winken uns zu. Und wenn in unserer Straße auch nur ein Ast der schönen Bäume abfällt, leiden wir mit den Nachbarn zusammen. Eine alte Frau erzählt dann, wann dieser Baum gepflanzt wurde. Wir werden dann ein Teil der Geschichte dieser Straße. Denn es ist unsere Straße." |
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Lidia Sierra Garcia, kam 1993 aus Spanien: "Ich bin schon so integriert, dass ich schon nicht mehr merke, dass ich Ausländerin bin". |
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Renate Schmidt-Bolzmann (67), Kommunalpolitikerin: "Ich finde, Deutschland ist reicher, bunter und interessanter geworden durch die Zuwanderer. Auch unsere Familie ist reicher geworden durch eine spanische Schwiegertochter und zwei süße spanisch-deutsche Enkelkinder." |
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LiteraturtippViele Zitate der Schwerpunkt-Seiten (Arbeit, Heimat, Familie, Kultur, Zusammenleben, Bildung / Zukunft) stammen aus zwei Publikationen der Körber-Stiftung (www.edition-koerber-stiftung.de). Sehr anschaulich werden Biografien von Migranten präsentiert, die den Leser in Lebenswelten unterschiedlicher Träume, Enttäuschungen und Erfahrungen eintauchen lassen.
Darüber hinaus sind einzelne Zitate dem Interkulturellen Stadtführer Gelsenkirchens entnommen (Gelsenkirchen - eine Stadt mit vielen Kulturen. Ein interkultureller Stadtführer, erstellt von Patricia Ferdinand-Ude, 2002). Auch diese - mittlerweile vergriffene - Publikation stellt Migrantenbiografien in sehr anschaulicher Art und Weise dar. |
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